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Gewiß ist die Schwäche der kommunistischen Parteien und deren Führungen nicht etwa vom Himmel gefallen, sondern sie ist ein Ergebnis der ganzen Vergangenheit Europas. Immerhin könnten sich die kommunistischen Parteien bei der gegenwärtig vorhandenen Reife der objektiv revolutionären Widersprüche in einem weit rascheren Tempo entwickeln, wenn natürlich eine richtige Führung von seiten der Komintern vorhanden wäre, welche diesen Entwicklungsprozeß fordern und nicht verlangsamen würde.
Trotzki, Die Strategie und Taktik in der imperialistischen Epoche [1]
IM JAHR 1923 standen die miteinander verflochtenen Schicksale des revolutionären Regimes in Rußland und der Kommunistischen Internationale auf des Messers Schneide. In Rußland (seit Dezember 1922 die UdSSR) ließ sich das zunehmend bürokratische Regime treiben. Es schien, wie der Historiker E.H. Carr bemerkte, „eine Art von Zwischenperiode zu bilden – ein Waffenstillstand oder herrscherlose Zeit in den Angelegenheiten der Partei und des Sowjets –, als kontroverse Entscheidungen, soweit möglich, vermieden oder aufgeschoben wurden.“ [2]
Die Bürokratie hatte sich noch nicht zu einer selbstbewußten Schicht kristallisiert. Niemand wagte es schon, vom „Sozialismus in einem Land“ zu reden. Aber bereits 1922 schrieb Lenin: „Der Staat ist in unseren Händen – aber hat er unter den Verhältnissen der Neuen Ökonomischen Politik in diesem Jahr nach unserem Willen funktioniert? Nein. Das wollen wir nicht zugeben: Er hat nicht nach unserem Willen funktioniert. Wie hat er denn funktioniert? Das Steuer entgleitet den Händen: Scheinbar sitzt ein Mensch da, der den Wagen lenkt, aber der Wagen fährt nicht dorthin, wohin er ihn lenkt, sondern dorthin, wohin ein anderer ihn lenkt – jemand, der illegal ist, der gesetzwidrig handelt, der von Gott weiß woher kommt, Spekulanten oder Privatkapitalisten, oder die einen und die andern zugleich –, jedenfalls fährt der Wagen nicht ganz so und sehr häufig ganz und gar nicht so, wie derjenige, der am Steuer dieses Wagens sitzt, sich einbildet.“ [3]
Die „göttliche, gesetzlose Hand“ war das Produkt unendlich mächtiger sozialer Kräfte, die in Rußland durch den industriellen Rückgang, die zum Verzweifeln niedrige Arbeitsproduktivität, die kulturelle Rückständigkeit und die allgemeine Notlage hervorgerufen wurde. Weil diese Kräfte – die Kräfte der Reaktion, des russischen Thermidors – noch kein effektives politisches Sprachrohr gefunden hatten, war der Ausgang 1923 noch keineswegs entschieden. Die Herrschenden handelten „bewußt, das schon, aber mit einer Art falschen Bewußtseins“, wie Marx einmal über frühere historische Akteure geschrieben hatte. Keiner unter ihnen verstand richtig, was geschah.
Der Ausdruck „Thermidor“ war der Mehrheit der Kominternführung ein wohlbekannter Begriff. Sie hatten natürlich die große klassische bürgerliche französische Revolution von 1789–94 studiert. Am 27. Juli 1794, dem 9. Thermidor nach dem revolutionären französischen Kalender, wurde die Diktatur der Jakobiner gestürzt und durch eine nach rechts gehende Regierung ersetzt, die sich im darauffolgenden Jahr in „Direktorium“ umbenannte. Dies führte schließlich zu einer sozialen Reaktion und zur Diktatur des Napoleon Bonaparte.
Der Begriff „Thermidor“ fand in den Auseinandersetzungen in Rußland in den 20er Jahren oftmals Verwendung. Spielte sich in Rußland ein Thermidor ab? 1923 waren das noch offene Fragen. Aber die Gefahr eines Thermidors war offensichtlich, und linke Tendenzen in den russischen und deutschen Kommunistischen Parteien spekulierten bereits darüber. Was also war in den Führungen der Komintern und der russischen Kommunistischen Partei geschehen?
Lenin war nicht mehr „der Mann am Steuer“. Im Dezember 1921 erlitt seine Gesundheit einen schweren Rückschlag, von dem er sich nie mehr vollständig erholte. Im Mai 1922 erlitt er einen lähmenden Schlaganfall, der ihn vorübergehend der Sprache beraubte. Zwei weitere Schlaganfälle folgten im Dezember desselben Jahres. Ein vierter, im März 1923, beendete sein politisches Leben, obwohl er erst im Januar 1924 den physischen Tod starb. Daher hatte er 1923 keinerlei Einfluß auf die Komintern, eine Tatsache von beträchtlicher Bedeutung, denn kein anderer besaß seine Kombination von immenser Autorität und tiefem Verständnis für die Dynamik der Revolution.
Die russische Revolution benötigte jetzt dringend der Erholung – nach der Zerstörung der industriellen Basis Rußlands in den Jahren des Kriegs, des Bürgerkriegs, der Hungersnot und der ausländischen Intervention, die die Arbeiterklasse dezimiert hatten. Diese Erholung hing jetzt mehr denn je von Ereignissen außerhalb Rußlands ab; vor allem von den Ereignissen in Deutschland. Sie hing deshalb von der Reife und der politischen Fähigkeit der Führungen der europäischen kommunistischen Parteien ab, besonders der der KPD, und von der Fähigkeit des Kominternzentrums, ihnen zu helfen und sie zu leiten.
Auf dem Vierten Weltkongreß der Komintern wurde der Apparat des Zentrums beträchtlich ausgedehnt. Es wurde jetzt festgelegt, daß eine „erweiterte Exekutive“ mit Vertretern aller Kommunistischen Parteien zusätzlich zu den 25 Mitgliedern des Kominternexekutivkomitees alle vier Monate zusammentreffen sollte. Nach dem Muster des russischen Politbüros wurde ein Präsidium errichtet, nebst einem Organisationsbüro, einer Agitprop-Abteilung, einer statistischen Abteilung und anderen. Keine dieser Maßnahmen verbesserte die politische Effektivität der Kominternexekutive.
Die entscheidende Rolle spielten nach wie vor drei russische Parteimitglieder: Sinowjew, Bucharin und Radek. Das war nicht gerade eine Kombination, deren Vorgeschichte Vertrauen erwecken konnte: Bucharin und Sinonowjew hatten den Wahnsinn der Märzaktion in Deutschland gutgeheißen, und letzterer war auch gegen den Oktoberaufstand in Rußland 1917 gewesen. Radek war ein kluger Kopf, aber, wie Lenin sagte, „knochenlos“.
Zwar war diese Kombination seit 1919 in der Komintern im Amt aber mit einem Unterschied. „Bei Lenins Lebzeiten“ schrieb Trotzki einige Jahre später, „lag die unmittelbare Leitung der Komintern in den Händen von Sinowjew, Radek und Bucharin. Bei Entscheidungen von irgendwie wichtigen Fragen nahmen an den Beratungen Lenin und der Autor dieser Zeilen teil. Unnötig festzustellen, daß in Grundfragen der Komintern der Ton von Lenin bestimmt wurde.“ [4] Jetzt war Lenin vollkommen außer Kampf gesetzt, und Trotzki, wie die Ereignisse bald zeigen sollten, war nicht in der Lage, den gleichen Einfluß auszuüben, wie früher mit Lenins Unterstützung.
Für den Ausgang der Ereignisse von 1923 können trotz alledem nicht einfach die Handlungen des Kominternzentrums verantwortlich gemacht werden. Denn es war keineswegs allmächtig. Die politischen Schwächen der Führungen der bulgarischen und deutschen kommunistischen Parteien waren noch entscheidender. Es war das Zusammenspiel der Schwächen auf dem Kampffeld und in der Zentrale, das tödlich wirkte.
Das Fehlen eines politisch geschulten, durch die Erfahrung gestählten Kaders in den nichtrussischen Parteien war die entscheidende Schwäche. Sie konnte damals nicht innerhalb kurzer Frist wettgemacht werden. Heute können wir mit der Weisheit des Rückblicks einen solchen Kader entwickeln – wenn wir die Lehren ziehen können.
Der bewaffnete Kampf zwischen den Anhängern der abgesetzten und denen der neuen Regierung ist noch nicht beendet. Die Kommunistische Partei und die Hunderte von Tausenden Arbeitern und Bauern, die unter ihrer Flagge vereint sind, nehmen an diesem Konflikt nicht teil ... Das ist ein Kampf zwischen den Bourgeoisien von Stadt und Land, das heißt zwischen zwei Flügeln der kapitalistischen Klasse.
Stellungnahme des Zentralkomitees der bulgarischen Kommunistischen Partei (11. Juni 1923) [5] (Hervorhebung hinzugefügt – D.H.)
AM 9. JUNI 1923 starteten die bulgarische Armee und Polizei, ermuntert durch die Führer der rechten politischen Parteien und gestützt auf die bewaffneten Einheiten der mazedonischen nationalistischen Organisation IMRO, einen Staatsstreich gegen die Regierung der Bauernunionspartei unter Alexander Stambulijski. Die bulgarische Kommunistische Partei erklärte nicht nur ihre Neutralität in dem darauf folgenden Kampf, den sie „einen Kampf zwischen zwei Flügeln der kapitalistischen Klasse“ nannte, sondern verurteilte und ermahnte die Kommunisten des Plevnaer Distriktes, die sich spontan dem Widerstand gegen den Putsch angeschlossen hatten.
Es war eine Wiederholung der ursprünglichen Reaktion der KPD-Führer auf den Kapp-Putsch in Deutschland, nur noch schlimmer. Schlimmer deswegen, weil sie nicht wieder unter dem Druck der Basis rückgängig gemacht wurde; schlimmer, weil die bulgarische Partei, im Gegensatz zur KPD, kein Neuling war, sondern bereits seit 1903 existierte.
Mit Hilfe dieser Passivität gelang es dem Anführer des Putsches, Zankow, den Widerstand der Bauernunion von Stambulijski zu brechen. Er errichtete ein Militärregime, das nicht nur mit Vertretern der bürgerlichen Parteien, sondern erwähnenswerterweise auch mit bulgarischen Sozialdemokraten dekoriert war.
Die Führer der bulgarischen Kommunistischen Partei waren keine Opportunisten und auch keine Feiglinge. Sie waren standhafte Gegner des imperialistischen Weltkriegs gewesen, wofür sie Verfolgung und Einkerkerung in Kauf genommen hatten. Und inkompetent, im üblichen Sinne des Wortes, waren sie auch nicht. Sie hatten eine Massenbewegung aufgebaut und den Einfluß der Sozialdemokraten erheblich geschwächt.
Eine Vorstellung von den Kräfteverhältnissen vermitteln uns die Ergebnisse der Kommunalwahlen vom Januar 1923, die, für balkanische Verhältnisse, freie Wahlen waren. „Die Bauernunion erzielte 437.000 Stimmen, oder etwas weniger als die Hälfte der gesamten Stimmzahl; danach kam die bulgarische Kommunistische Partei mit 230.000; die bürgerlichen Parteien zusammengenommen erzielten lediglich 220.000, und die ‚breiten‘ (oder rechten) Sozialisten nicht mehr als 40.000.“ [6] Bei den Nationalwahlen, die im April folgten und von den Oppositionsparteien wegen der sie begleitenden Einschüchterungsversuche und Manipulationen gebrandmarkt wurden, konnte die Kommunistische Partei immer noch 210.000 Stimmen für sich verbuchen, gegenüber 500.000 Stimmen für die Bauernunion. Die Kommunistische Partei hatte 39.000 Mitglieder, eine beträchtliche Zahl für ein Land mit weniger als fünf Millionen Einwohnern, und kontrollierte die meisten der zugegebenermaßen schwachen Gewerkschaften.
Warum war dann die Kommunistische Partei in der Krise von 1923 handlungsunfähig? Im Januar hatte die Partei die Losung der Arbeiter- und Bauernregierung übernommen – etwa vier Fünftel der Bevölkerung bestand aus Bauern –, hatte aber erklärt: „Die Arbeiter- und Bauernregierung kann heute in Bulgarien nicht durch eine Koalition der Kommunistischen Partei mit der Bauernunion oder durch eine aus einer solchen Koalition resultierenden Bauernregierung verwirklicht werden.“ [7]
Das war sicherlich richtig. Der durchaus dehnbaren Losung von der Arbeiter-und Bauernregierung hätte nur durch die Spaltung einer Bauernpartei im Verlauf einer Revolution ein revolutionärer Inhalt gegeben werden können – so wie in Rußland Ende 1917, als die Bolschewiki eine sowjetische Koalitionsregierung mit dem linken Flügel der bäuerlichen Sozialistischen Revolutionären Partei bildeten.
Der Führer der bulgarischen Kommunistischen Partei, Kabaktschiew, hatte, vollkommen recht, als er die Bauernunion als eine von reichen Bauern (Kulaken) und der Landbourgeoisie dominierte Partei bezeichnete. Zu Recht hatte er erklärt: „Die Arbeiter- und Bauernregierung kann nur durch den revolutionären Kampf der Massen geschaffen werden, d.h., durch den unabhängigen Kampf des städtischen Proletariats und der kleinen und landlosen Bauern.“ [8] Aber diese untadelige orthodoxe Analyse besaß überhaupt keine Bedeutung für die Frage des Zankow-Putsches.
Im August 1917 hatten die Bolschewiki in Rußland ihre ganzen Kräfte in den Kampf gegen General Kornilow geworfen, als er einen Putsch gegen die Kerenski-Regierung versuchte. Zur gleichen Zeit verfolgte eben diese Regierung die Bolschewiki; sie hatte Lenin in den Exil getrieben und Trotzki ins Gefängnis geworfen. Sie war selbst halb mit Kornilow verbündet. Das alles hatte aber die Bolschewiki nicht daran gehindert, die Hauptsache zu begreifen: daß ein Sieg Kornilows eine massive Niederlage für die Arbeiterklasse und für die Aussichten der Revolution bedeuten würde.
Die Bolschewiki gaben Kerenski jedoch keine politische Unterstützung. Wie es Lenin ausdrückte: „Wir werden kämpfen, wir kämpfen gegen Kornilow ebenso wie die Truppen Kerenskis, aber wir unterstützen Kerenski nicht, sondern entlarven seine Schwäche ... Und auch die Agitation muß momentan nicht so sehr direkt gegen Kerenski gerichtet sein, wie indirekt gegen ihn, indirekt, indem wir den aktiven, den alleraktivsten, den wahrhaft revolutionären Krieg gegen Kornilow fordern. Einzig und allein die Entwicklung dieses Krieges kann uns an die Macht bringen.“ [9]
In Rußland geschah das dann tatsächlich. Ob das gleiche Ergebnis in Bulgarien hätte erzielt werden können, blieb ungeprüft. Die bulgarische Kommunistische Partei enthielt sich im Kampf, eine Politik, die garantiert ins Desaster führen mußte. Ihre Führer hatten es versäumt, aus der Erfahrung der Bolschewiki gegen Kornilow oder aus dem Kapp-Putsch in Deutschland zu lernen. Sie waren so darum bemüht, ihre politische Unabhängigkeit von Stambulijski zu wahren, daß sie in Passivität verfielen und die Hauptgefahr ignorierten: Zankow. Nicht umsonst hatte Trotzki Kabaktschiew einen „leblosen Doktrinär“ genannt. Unfähigkeit, die Realitäten einer neuen Situation zu erkennen, war die Wurzel des bulgarischen Desasters.
Die Kominternexekutive, die vom 12. Juni an tagte, nahm eine richtige Position ein. Die bulgarische Partei, sagte Sinowjew, „muß sich mit der Bauernschaft und sogar mit dem verhaßten Stambulijski verbünden, um einen gemeinsamen Kampf gegen die Weißen zu organisieren“. [10] Doch sogar in dieser dreizehnten Stunden hielten die bulgarischen Kommunisten mit einer Beharrlichkeit an ihrer Linie fest, die um eines lohnenswerteren Zieles willen alle Achtung verdient hätte.
Anfang Juli gab der Ausschuß der Kommunistischen Partei Bulgariens folgende Erklärung heraus: „Der Parteiausschuß billigt vollkommen die Haltung der Parteizentrale zu den Ereignissen vom 9. Juni und erklärt, daß die Haltung und die Anweisungen der Parteizentrale sich in voller Übereinstimmung mit den Resolutionen des Parteiausschusses vom Januar und April 1923 befinden ..., die ... unter den gegebenen Umständen die einzig mögliche [war] ... Der Parteiausschuß ist der Ansicht, daß die Meinungsverschiedenheiten wegen der Taktik der Partei anläßlich des Staatsstreiches zwischen der Exekutive der Kommunistischen Internationale ... und der Kommunistischen Partei Bulgariens andererseits auf die ungenügende Information der Exekutive über die Ereignisse vom 9. Juni zurückzuführen sind ... Bezüglich des Appells der Kominternexekutive an die arbeitenden Massen, in dem diese aufgefordet werden, ihre Kräfte mit denen der Führer der Bauernunion zu vereinen, ist der Parteirat der Meinung, daß ... es ein Fehler für die Kommunistische Partei wäre, den Agrarführern, die die Interessen des arbeitenden Volkes auf dem Lande verraten haben, ihren verlorenen Einfluß wiederzugeben.“ [11]
Der Gang der Ereignisse selbst machte natürlich diese Position bald unhaltbar, ganz zu schweigen vom Druck der Komintern. Nachdem sich die Zankow-Regierung des Widerstandes seitens der Bauernunion entledigt hatte, richtete sie das ganze Gewicht der Repression gegen die Kommunistische Partei.
Nach einer scharfen internen Auseinandersetzung schwenkte die Parteiführung im August 1923 richtigerweise, aber viel zu spät, auf eine Einheitsfont-Taktik ein. Leider begnügte sie sich nicht damit. Nachdem sie die aufsteigende Flut im Juni verpaßt hatte, und die Arbeiter und Bauern jetzt desorganisiert und auf dem Rückzug waren, bereitete sie nun ihre eigene Märzaktion vor. Sie plante einen bewaffneten Aufstand, ursprünglich für den Oktober, dann für den 22. September.
Es war ein Desaster. Zankow, der von dem Plan Wind bekam, schlug zuerst mit Massenverhaftungen zu. Zwischen dem 19. und dem 28. brachen vereinzelte Aufstände aus, sie wurden aber innerhalb von Tagen zerschlagen. Es hatte keine ernsthaften politischen Vorbereitungen gegeben, und die Situation war höchst ungünstig. Der Aufstand war pures Abenteuertum. Ihm folgte ein weißer Terror, viel schrecklicher als alles, was vorher war.
Das September-Desaster in Bulgarien, im Gegensatz zu dem vom Juni, war nicht hausgemacht. Die Sinowjew-Bucharin-Führung des Kominternpräsidiums hatte sich dafür stark gemacht. Obwohl die öffentliche Resolution der Komintern im Juni in seiner Wortwahl sehr allgemein blieb – „Die Putschisten sind jetzt der Feind und müssen besiegt werden.Vereinigt Euch im Kampf gegen die weiße Revolte“ –, hatte Sinowjews Gesandter Kolarow im August weitaus spezifischere Anweisungen mitgebracht, die zu dem versuchten Aufstand führten.
Und nach dem Ereignis wurden die Kritiker des versuchten Aufstandes von der bulgarischen Führung entfernt – und später größtenteils ausgeschlossen –, während Kolarow und Dimitrow, die Verfechter bedingungslosen Gehorsams, als die von Moskau gebilligte Exil-Führung eingesetzt wurden.
Wir haben dort [in Deutschland] in der zweiten Hälfte des vorigen Jahres ein klassisches Beispiel vor Augen gehabt, wie man eine ganz außergewöhnliche revolutionäre Situation von welthistorischer Bedeutung verpassen kann.
Trotzki, Die Lehren des Oktober (1924) [12]
AUF IHREM JENAER KONGRESS im August 1921 hatte die KPD, gegen die Opposition ihres linken Flügels, die Taktik der Einheitsfront übernommen und ein Programm von Teilforderungen aufgestellt. Schnelle Ergebnisse waren unmittelbar nach der Märzaktion kaum zu erwarten, aber im folgenden Sommer konnte die KPD einen beträchtlichen Erfolg verbuchen.
Im Juni 1922 wurde Rathenau, der Außenminister der Koalitionsregierung unter Wirth, in der die Sozialdemokraten ein wichtiger Bündnispartner waren, von einem nationalistischen Banditen ermordet. Das war der Höhepunkt einer ganzen Serie von Morden durch rechte Banden, die mit der Armee und der Polizei in loser Verbindung standen. Es hatte mindestens 354 solcher Morde seit dem Januar 1919 gegeben, auf die lediglich 24 Verurteilungen folgten, und die mit lächerlichen Strafen – der Durchschnitt war vier Monate Gefängnis – geahndet wurden. [13]
Nach dem Mord an Rathenau gelang es der KPD, den Gewerkschaftsbund ADGB (der dem heutigen DGB entspricht), die SPD und die Rest-USPD (welche sich erst im September mit der SPD vereinigte) zu zwingen, sich an Massendemonstrationen für eine Säuberung der Armee, des öffentlichen Dienstes und der Gerichte von rechten Elementen, für eine Generalamnestie für politische Gefangene – es gab mehrere Tausende, überwiegend linke – und für die Unterdrückung der nationalistischen Banden zu beteiligen. Die Bewegung nahm ein solches Ausmaß an, daß sich die Wirth-Regierung genötigt sah, Gesetze einzuführen, die diesen Forderungen, wenigstens im Prinzip, Rechnung trugen.
Die Linke in der KPD jedoch, nun unter der Führung von Arkady Maslow und Ruth Fischer, übte heftige Kritik an der Durchführung dieses Unternehmens durch die Mehrheit der Parteiführung unter Meyer und Brandler. Die meisten Argumente, die die Linke vorbrachte, waren wertlos. Im Grunde genommen waren sie Varianten der „Theorie von der Offensive“ – aber ein Argument verdient, diskutiert zu werden. Denn die Linke argumentierte, die Aufstellung von Forderungen an die Regierung oder an die SPD-Führer, ohne die die Regierung nicht überleben konnte, würde die Illusionen in die bürgerliche Demokratie und in die Möglichkeit, daß die Bürokraten der SPD und des ADGB tatsächlich die Reaktionäre bekämpfen könnten, stärken.
Dieses Argument war in dreierlei Hinsicht falsch. Erstens war es in der Zeit nach dem Märzwahnsinn von höchster Wichtigkeit, die Mitglieder der KPD dazu zu drängen, die Einheitsfronttaktik in der Praxis zu akzeptieren, und die Rathenau-Affäre war dafür eine maßgeschneiderte Gelegenheit. Die Hauptgefahr zu jener Zeit war Linksradikalismus, nicht Opportunismus.
Zweitens, obwohl die Taktik der Aufstellung von Forderungen an reformistische Führer oftmals mißbraucht und manchmal tatsächlich zu einem Fetisch wurde, ist sie für eine Arbeiterpartei, die in der Minderheit ist, aber das Ziel verfolgt, eine große Anzahl von Arbeitern in Aktionen einzubeziehen, ein notwendiger Aspekt der Massenagitation. Das war zur Zeit der Rathenau-Affäre möglich, und wurde zu einem gewissen Grad auch tatsächlich erreicht. Der Aufruf zu Massenaktionen, um die Regierung zur Durchführung bestimmter Maßnahmen zu zwingen, ist etwas ganz anderes, als darauf zu vertrauen, daß eine Regierung durch bloße Resolutionen und Überzeugungsarbeit veranlaßt werden könnte, Maßnahmen zu ergreifen, was die reformistische Herangehensweise ist. Und was die Stärkung von Illusionen in die bürgerliche Demokratie betrifft, so werden alle Erfolge, die durch Massenaktionen der Arbeiterklasse erreicht werden, eher zur Erhöhung des Klassenbewußtseins und Selbstvertrauens führen, anstatt zur Stärkung des Parlamentarismus.
Drittens, obwohl es tatsächlich eine wirkliche Gefahr dabei gibt, staatliches Eingreifen gegen die Rechte zu fordern – in diesem Fall gegen die nationalistischen Banden –, war das Projekt insgesamt, wenn auch notwendigerweise ein Kompromiß mit den Reformisten und Zentristen, unter den gegebenen Bedingungen berechtigt.
Die kurzfristigen Ergebnisse dieser und anderer Operationen der Einheitsfront waren vorteilhaft für die KPD, besonders in den Gewerkschaften. Die Mitgliederzahl der Partei erholte sich von ihrem Tiefstand Mitte 1921 und erreichte Ende 1922 über 218.000. Das Wachstum des Einflusses der Partei soll angeblich proportional größer gewesen sein als die Zunahme bei der Mitgliedschaft. In der gleichen Periode verlor die SPD 47.000 Mitglieder.
Unglücklicherweise hatte diese Erfahrung auch negative Folgen. Die vorwiegend rechte Führung der KPD gewann die Überzeugung, daß die Partei unablässig, mehr oder weniger friedlich, Fortschritte durch beständiges Werben um die SPD, insbesondere um ihren linken Flügel, erzielen könnte. Die Tatsache, daß sowohl Meyer als auch Brandler die Märzaktion unterstützt hatten und sich dann heftig gegen Abenteurertum gewandt hatten, führte sie jetzt dazu, der Einheitsfronttaktik einen merklich rechten Zungenschlag zu geben.
So verkündete die Resolution zur „Arbeiterregierung“ auf dem nachfolgenden Parteikongreß in Leipzig im Januar 1923: „Die Arbeiterregierung ist weder die Diktatur des Proletariats, noch ein friedlicher parlamentarischer Aufstieg zu ihr. Sie ist ein Versuch der Arbeiterklasse, im Rahmen und vorerst mit den Mitteln der bürgerlichen Demokratie, gestützt auf proletarische Organe und Massenbewegungen, Arbeiterpolitik zu treiben.“ [14]
Dieser mit 122 zu 81 Stimmen angenommene Antrag lief gefährlich und unverzeihlich auf die altbekannte sozialdemokratische Trennung von unmittelbaren Kampfzielen und dem Ziel der Arbeitermacht hinaus. Zu der Zeit, als der Antrag angenommen wurde, wich die prekäre Stabilität der Weimarer Republik bereits einer neuen und tieferen Krise. Die große Inflation war schon spürbar unterwegs, und am 11. Januar 1923 marschierte die französische Armee in das Ruhrgebiet, das damalige industrielle Herz Deutschlands, ein.
Die große Inflation begann ernsthaft ab Juni 1922. Man brauchte 300 deutsche Mark, um einen Dollar zu kaufen. Sechs Monate später brauchte man 8.000 Mark. Der internationale Wert der Mark wurde etwa alle sechs Wochen halbiert. Die Preise innerhalb Deutschlands stiegen nicht ganz so rasch – aber sie stiegen wie nie vorher. Die Auswirkungen auf die Löhne waren katastrophal. 1920 sahen die deutschen Bergarbeiter beispielsweise einen Anstieg ihrer Reallöhne von 60 auf 90 Prozent des Wertes von 1914. Während des Jahres 1922 sackten sie auf weniger als die Hälfte des Wertes von 1914 ab. [15]
Das war nichts, verglichen mit dem, was noch kommen sollte. Im Spätsommer 1923 war die deutsche Währung effektiv wertlos. Nach ihrer schließlichen Stabilisierung auf der Basis der neuen Reichsmark wurde deren Wert auf eins zu 10.000 Milliarden Mark festgesetzt!
Die galoppierende Inflation von 1922 war größtenteils das Produkt des Versuchs seitens der Großindustrie, die Löhne drastisch zu senken. Die Hyperinflation, die 1923 folgte, war auch eine Waffe in den Händen der deutschen Großindustrie und der neuen rechten Regierung unter Cuno gegen die Westmächte, insbesondere gegen Frankreich. Schließlich entwickelte sich die Inflation zu einem selbständigen Monster, das ohne eine entscheidende Veränderung sowohl in dem internen Kräfteverhältnis der Klassen in Deutschland (in die eine oder andere Richtung) als auch im Verhältnis zwischen Deutschland und den Westmächten nicht zu bändigen war.
Die Cuno-Regierung, die die Wirth-Koalition im November 1922 ersetzte, war die rechteste seit 1918. Es war ihre Absicht, ohne – tatsächlich gegen – die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften zu regieren, um die restlichen sozialen Errungenschaften von 1918, insbesondere den Achtstundentag, zu beseitigen, um die Reallöhne noch weiter zu senken und um die französische Regierung und deren Verbündete zu zwingen, eine drastische Reduzierung der Reparationszahlungen zu akzeptieren.
Nach dem Versailler Vertrag war der deutsche Staat verpflichtet, in jährlichen Raten „Reparationen“ für die Kriegsschäden zu zahlen, vor allem an Frankreich und Belgien. Auf das riesige Ausmaß der Last weist der zu zahlende Gesamtbetrag von 132 Milliarden Goldmark – also zum Wert von 1914, der weitaus höher als die schon stark entwertete Währung von 1919 war – hin und noch mehr die Tatsache, daß die „Reparationen“ die Übergabe von einem Viertel der gesamten Kohleproduktion Deutschlands miteinschlossen.
Bei den Kohlelieferungen kam Cuno den Verpflichtungen nicht nach, in der Hoffnung, eine Reduzierung aushandeln zu können. Die ebenso rechte französische Regierung unter Poincaré konterte, indem sie im Januar 1923 ihre Armee, von belgischen Streitkräften unterstützt, ins Ruhrgebiet schickte, um sich die Kohle selbst zu nehmen. Zwei Tage später rief die deutsche Regierung zum „passiven Widerstand und zur Nichtzusammenarbeit“ mit den Besatzungsmächten auf. Damit hoffte sie, nicht nur die Franzosen in Verlegenheit zu bringen, sondern auch eine nationalistische Hysterie zu entfachen, um so den Widerstand der deutschen Arbeiter gegen die Rechten zu schwächen. Zuerst hatte sie damit einigen Erfolg.
Die KPD reagierte gut. Als Cuno im Reichstag wegen seiner Politik und für die „nationale Einheit“ die Vertrauensfrage stellte, stimmte allein die Handvoll KPD-Abgeordneter dagegen. Die Parteilinie wurde in der Losung zusammengefaßt: „Schlagt Poincaré an der Ruhr und Cuno an der Spree“, also Berlin.
Die Komintern organisierte eine internationale Solidaritätskampagne. Die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF), von der sich Frossard und seine Freunde soeben abgespalten hatten, organisierte eine energische Kampagne. „Am 18., 19. und 20. Januar fanden 30 Protestveranstaltungen in verschiedenen Stadtteilen von Paris [gegen] die Besetzung der Ruhr statt. Die Humanité veröffentlichte (am 19. Januar) einen Aufruf der Komintern und der Profintern an die französischen Arbeiter, in dem erklärt wurde, daß ‚Euer Feind zu Hause ist‘ ... Wenn die Repressalien seitens der Regierung ein zuverlässiger Maßstab sind ... dann haben die Franzosen ihre Pflicht getan. Ende April war das Santé[-Gefängnis] mit Kommunisten, ... Syndikalisten ... und der Kommunistischen Jugend berstend voll ... Die Anklagen umfaßten eine beeindruckende Palette von Anklagen, von der ‚Anstiftung zu Verbrechen gegen die externe und interne Sicherheit des Staates‘ bis hin zur ‚Anstiftung von Soldaten zur Pflichtverletzung‘.“ [16]
Diese internationale Agitation war ein Faktor, der die anfänglich große Anziehungskraft der Parole für „nationale Einheit“ auf deutsche Arbeiter schwächte. Ein anderer Faktor war die allzu offensichtliche Zusammenarbeit zwischen den Industriellen des Ruhrgebiets mit den Franzosen, wann immer es für sie profitabel war. Der dritte und weitaus wichtigste Faktor war der Beginn der Hyperinflation im April. Die Preise begannen sich wöchentlich, dann täglich zu verdoppeln. Im Ruhrgebiet begann eine massive Welle inoffizieller und ökonomischer Streiks, die im Mai, Juni und Anfang Juli auf fast ganz Deutschland übergriffen, weil die Löhne praktisch wertlos waren.
Die Gewerkschaftsführungen verloren die Kontrolle, während Fabrikräte zu den eigentlich führenden Gremien wurden. Bereits gegen Ende 1922 hatte eine von der KPD beeinflußte Konferenz Berliner Betriebsräte die ADGB-Führung aufgefordert, eine nationale Betriebsräteversammlung einzuberufen. Als sich dieser, wie vorausgesehen, weigerte, nahmen die Berliner Räte die Organisierung der Versammlung selbst in die Hand. Somit wurde der Grundstein zu einer in erster Linie von der KPD beeinflußten nationalen Organisation gelegt.
Während des Aufschwungs im Frühling 1923 gewann diese Organisation einen viel breiteren Einfluß. Zwei Initiativen waren von besonderer Bedeutung. Erstens der Aufruf zur Bildung von „proletarischen Hundertschaften“, die effektiv eine auf den Betrieben basierenden Miliz waren, um den Rechten Widerstand zu leisten; zweitens der Aufruf zur Bildung von „Kontrollkomitees“ durch die Räte in Zusammenarbeit mit Arbeiterhausfrauen, um direkte Maßnahmen gegen Preissteigerungen einzuleiten. Bis zum Herbst hatten sich etwa 800 proletarische Hundertschaften gebildet, die nach KPD-Angaben ca. 60.000 Arbeiter umfaßten. Trotzki argumentierte später, daß die Fabrikräte effektiv die Rolle von Sowjets hätten spielen können, und in der Tat hatten sie viel Ähnlichkeit mit der sowjetischen Organisationsform.
Der Einfluß und die Mitgliederzahlen der KPD wuchsen schnell an. 70.000 neue Mitglieder schlossen sich der Partei an, Organisationsformen der Arbeiterklasse außerhalb der Kontrolle der reformistischen Bürokratien waren im Entstehen, es fand eine Massenradikalisierung statt, es herrschte eine allgemeine Stimmung, wonach „die Dinge so nicht weitergehen können“.
Kurz gesagt, es gab eine revolutionäre Situation. Ihr Ausgang hing aber wie immer von der Führung ab. Die Bewegung brauchte einen Brennpunkt, bestimmte Ziele, die, einmal erreicht, sie weiter im Kampf um die Macht tragen würden. Und die eigentliche Machtergreifung mußte auch organisiert, und der von den Sozialdemokraten 1919 geschaffene bürgerliche Staat wieder zerstört werden. Das alles verlangte von der KPD eine Kombination von Festigkeit und Flexibilität, „politisches Gespür“ wie es Lenin nannte. Klare Zielsetzungen, aber auch schnelle Reaktionen auf eine sich stets verändernde Lage.
Bis zum Sommer hatte die KPD die Sache gar nicht schlecht gemacht, wenn man von einem vorübergehenden Wanken zum Nationalismus hin absieht. [17] Es stimmt zwar, daß die Partei von der Streikwelle im Mai überrascht wurde. Die fundierte Einheitsfrontvorarbeit, die sie um die Betriebsräte geleistet hatte, erlaubte es ihr jedoch, sich schnell der neuen Situation anzupassen, und die Orientierung, die sie den Räten gab, war zweifelsohne korrekt. Das allein reichte aber nicht aus.
Die KPD brauchte nicht nur allgemeine politische Losungen – „Weg mit Cuno“, „Für eine Arbeiterregierung“ waren ihre Leitgedanken –, sondern auch präzise Zielsetzungen, konkrete Aufrufe zu Massenaktionen, um ihren eigenen Einfluß und die Fieberkurve der Bewegung zu messen und um die Polarisierung der Arbeiter gegen die sozialdemokratische Rechte voranzutreiben.
Sie schien, eine solche Zielsetzung im Antifaschistischen Tag erblickt zu haben. Die extreme Rechte wuchs auch heran, obwohl ihr Gewicht in den meisten Orten weitaus geringer war als das der Linken. Aber in Bayern belästigte eine rechte Landesregierung sogar die SPD, und die Nazipartei war eine wachsende Kraft, die eine Menge Unterstützung aus Teilen der Armee genoß. Anfang Juli rief Brandler zur Vorbereitung für den bewaffneten Kampf gegen die Faschisten und für einen nationalen Antifaschistischen Tag von aggressiven Demonstrationen am 29. Juli auf.
Nun, das war noch ein Einheitsfrontunternehmen. Alle Arbeiterorganisationen wurden aufgefordert, daran teilzunehmen, und es war auch richtig so. Gleichzeitig wurde damit der Weg geebnet für einen Übergang von der Defensive (für die die Einheitsfront konzipiert war) hin zur Offensive. Denn die Demonstrationen würden unter diesen Umständen mit Sicherheit ausarten, und die Sozialdemokraten würden sich sicher dagegenstellen. Der Grad der Differenzierung zwischen der Linken und der Rechten innerhalb der sozialdemokratischen Reihen könnte in der Praxis auf die Probe gestellt werden, und ebenso die Bereitschaft von nichtparteiischen Arbeitern, dem Aktionsaufruf zu folgen.
Der Aufruf zu einem Antifaschistischen Tag war kein Abenteuertum. Für Millionen von Arbeitern war die Erfahrung mit dem Kapp-Putsch noch in frischer Erinnerung. Das Versagen der Cuno-Regierung war offensichtlich. Ein erneuter Versuch seitens der Rechten, die Republik zu stürzen, schien eine reale Möglichkeit. „Die Cuno-Regierung ist bankrott. Die internen und externen Krisen haben sie an den Rand der Katastrophe geführt“, schrieb Brandler. „Wir befinden uns an der Schwelle zu bitteren Kämpfen. Wir müssen voll bereit sein, zu handeln.“ [18]
So weit, so gut. Aber die KPD-Führung begann bald, die Nerven zu verlieren. Die von der SPD kontrollierte Regierung Preußens, der größten Provinz Deutschlands, verbot die geplante Demonstration. Andere Länderregierungen taten das Gleiche, allerdings nicht die von Sachsen und von Thüringen, die von linken Sozialdemokraten kontrolliert wurden. Brandler stieß nun innerhalb des führenden Gremiums der KPD auf die Opposition nicht nur der Rechten, sondern auch der Linken, die alle seine Vorschläge, die guten wie die schlechten gleichermaßen, im Geist des institutionalisierten Fraktionalismus abzulehnen schienen. Er beriet sich telegrafisch mit der Kominternexekutive. Die Antwort, von Radek unterzeichnet, lautete: „Das Präsidium der Internationale rät zur Aufgabe der Demonstrationen am 29. Juli ... Wir befürchten eine Falle.“ [19] Die KPD fügte sich.
Das war ein ernsthafter Fehler. Sie hätte eine hervorragende Gelegenheit für einen praktischen Test der Kräfteverhältnisse dargeboten, bei einem minimalen Risiko und mit der Möglichkeit, sich im Falle eines Erfolges auf eine ernsthaftere Offensive zuzubewegen. Sie wurde verpaßt. Für sich genommen war das noch kein fataler Fehler, wie spätere Ereignisse zeigten, aber es war ein unheilvolles Zeichen von den Spaltungen, Schwächen und Mangel an Selbstvertrauen in der KPD-Führung und im Kominternzentrum.
Im konkreten Fall wurde dieser Rückzug zu jener Zeit kaum bemerkt. Er wurde durch Massenveranstaltungen, die anstelle der Demonstrationen organisiert wurden, verdeckt. In Berlin sprach man von einer Zuhörerschaft von 200.000. Als im August die Hyperinflation ihren Höhepunkt erreichte, brach eine erneute und noch massivere Streikwelle aus. Die Situation schlug um. Die Delegierten der Berliner Betriebsräte riefen zu einem sofortigen Generalstreik am 11. August zum Sturz der Cuno-Regierung und zur Bildung einer Arbeiterregierung auf. Die Hauptstadt wurde lahmgelegt. Anderswo war die Situation im Fluß, aber das Ausmaß der Streiks zeigte sich als ausreichend.
Cuno warf das Handtuch. Eine neue Regierung wurde gebildet. Keine Arbeiterregierung, sondern eine „große Koalition“ von der SPD mit allen „ respektablen“ bürgerlichen Parteien. Nur die KPD und die Nazis wurden ausgeschlossen. Der neue Kanzler Stresemann war Mitglied eben derselben rechten Partei wie Cuno, er sah aber ein, daß Cunos Plan nicht verwirklichbar war. Er versuchte nun, die SPD zu benutzen, um die deutschen Arbeiter zu kontrollieren – er ernannte vier SPD-Minister, um seiner Regierung ein „linkes Antlitz“ zu verleihen –, und er versuchte, mit Hilfe der britischen und amerikanischen herrschenden Klassen zu einer Einigung mit der französischen Regierung zu kommen.
Die Rolle der SPD darin war zentral und unverzichtbar. Und trotzdem sah es für die deutsche Bourgeoisie gar nicht so rosig aus. Der Historiker E.H. Carr, der über die deutsche und europäische Politik jener Zeit außerordentlich gut informiert war, schrieb. „Nur wenige innerhalb und außerhalb Deutschlands ... hatten überhaupt irgendein Vertrauen in die Fähigkeit der Stresemann-Regierung, den Sturm zu überleben.“ [20]
Die SPD war tief gespalten. Obwohl die Partei bis zum letzten Cuno „tolerierte“, für seine Verordnungen im Reichstag gestimmt oder sich der Stimme enthalten hatte, hatte ihre rechte Führung zunehmende Schwierigkeiten, sogar ihre Parlamentsfraktion zu kontrollieren. Bei der Vertrauensabstimmung für die Stresemann-Regierung brachen 53 der 171 SPD-Abgeordneten die Disziplin und enthielten sich der Stimme. Die Einheitsfronttaktik der KPD hatte greifbare Resultate mit sich gebracht.
In Sachsen und Thüringen regierten die SPD-Regierungen gegen den Wunsch des SPD-Zentrums mit Unterstützung der KPD. Diese Tatsachen sind wichtig. Denn sie bekräftigen, wie auch und vor allem die Massenstreiks von hunderttausenden SPD-Anhängern, daß im August 1923 die politische Linie der KPD, im Gegensatz zur KPD selbst, die Unterstützung der großen Mehrheit der deutschen Arbeiter genoß.
Es gab nur einen Haken. Die „Arbeiterregierung“ konnte nicht im Parlament gebildet werden, denn die Arbeiterparteien hatten keine Mehrheit im Reichstag. In einer Reihe von Ländern, wo die SPD und die KPD zusammengenommen die Stimmenmehrheit besaßen, war das anders, aber Berlin blieb das vorläufig entscheidende Zentrum. Die SPD konnte ihre Koalition mit der herrschenden Klasse weiterhin aufrechterhalten mit dem Argument, daß dies „praktikabler“ und das „kleinere Übel“ sei. Für die Mehrheit der Arbeiter, die die SPD unterstützten oder parteilos waren, schienen die Betriebsräte keine alternative Regierung zu sein. Es gab deshalb ein Nachlassen im Kampf. Die KPD brauchte eine neue Orientierung.
Es gibt keinen Zweifel, daß dies eine revolutionäre Situation war, wahrscheinlich mehr noch als im Frühling. Zahlreiche Beobachter aus allen politischen Richtungen bezeugen das. Einer reicht, um uns ein Bild davon zu entwerfen: „Im September und Oktober und November machte Deutschland eine tiefe revolutionäre Erfahrung durch ... Eine Million Revolutionäre, die bereit sind und auf das Zeichen zum Angriff warten; hinter ihnen Millionen von Arbeitslosen, Hungernden, Hoffnungslosen, ja ein ganzes leidgeplagtes Volk, welches flüstert: ‚Auch wir! auch wir!‘ Die Muskeln dieser Massen sind gespannt, die Gewehre, mit denen man den Panzern der Reichswehr begegnen wollte, schon fest in den Fäusten.“ [21]
Welcher politischer Aufruf war sinnvoll? Welche Losungen sollte die KPD ausgeben?
Die KPD fuhr weiter fort, nach einer Arbeiterregierung und nach einem Bruch der SPD mit den bürgerlichen Parteien zu rufen. Das war an und für sich zweifellos korrekt, aber es war im Grunde genommen eine Propagandalosung. Sie war richtig und notwendig, reichte aber für eine revolutionäre Situation keineswegs aus. Was noch? Sie rief zur Verteidigung der Länderegierungen auf, die von der linken SPD kontrolliert und von der KPD unterstützt wurden. Unter den Umständen war dies schon ein gangbarer Weg, um die Mehrheit der Arbeiter für Aktionen zu gewinnen. Und diese defensive Aktion hätte in eine Offensive münden können – allerdings nur unter der Voraussetzung, daß sie in ganz Deutschland verallgemeinert würde und sich auf das Ruhrgebiet und Preußen ausdehnte.
Laßt uns jetzt wieder einen Blick auf das Kominternzentrum werfen. Als Brandlers Telegramm, in dem er um Rat wegen des Antifaschistischen Tages ersuchte, Moskau erreichte, befanden sich alle einflußreichen russischen Führer außer Lenin, der verhindert war, im Urlaub. Radek war gezwungen, ihnen zu telegrafieren. Die Antworten – Sinowjew und Bucharin sagten, der Antifaschistische Tag sollte wie geplant durchgeführt werden, Stalin empfahl einen Rückzug, und Trotzki sagte: „Ich weiß es nicht“ – waren für sich genommen weitaus weniger bedeutend als die Tatsache, daß sie alle, Trotzki miteingeschlossen, so sehr mit russichen Angelegenheiten beschäftigt waren, daß sie es versäumten, sich der entwickelnden revolutionären Situation in Deutschland anzunehmen.
Der Sturz Cunos weckte sie auf. Für eine kurze Zeit trat die russische Führung, zum letzten Mal, wieder vereint dafür ein, daß eine bedeutende Kommunistische Partei den Versuch unternimmt, die Macht zu ergreifen. Sogar Stalin war kurzzeitig ergriffen. „Die kommende Revolution in Deutschland ist das wichtigste Weltereignis unserer Tage“ schrieb er. „Der Sieg der Revolution in Deutschland wird für das Proletariat in Europa und in Amerika eine größere Bedeutung haben als der Sieg der russischen Revolution vor sechs Jahren. Der Sieg des deutschen Proletariats wird ohne Zweifel das Zentrum der Weltrevolution aus Moskau nach Berlin versetzen.“ [22]
Der Posaunenschlag klang aber nicht so überzeugend. Die Führer der deutschen KPD hatten trotz der Anstachelung durch Moskau kein wirkliches Vertrauen in die eigene Fähigkeit, eine erfolgreiche Verteidigung von Thüringen und Sachsen zu organisieren und dann zur Offensive überzugehen. All ihre Fehler der vergangenen fünf Jahre – der Spartakus-Aufstand, ihr Abstentionismus während der ersten Tage des Kapp-Putsches, die Märzaktion – waren „ultralinke“ Fehler gewesen. Jetzt hatten die KPD-Führer endgültig die Lehren daraus gezogen, nur allzu endgültig. Angesichts einer wirklich revolutionären Situation schreckten sie nun zurück.
Es stimmt zwar, daß sie sich zu einem Aufstand verpflichteten, aber alles vielmehr im Zeichen der Furcht und des Zitterns als im Zeichen der Kühnheit und der Entschlossenheit. Sie trafen auch technische Vorbereitungen. In der Tat, sie überschätzten so sehr die Notwendigkeit von praktischen und militärischen Vorbereitungen, daß sie den politischen Vorbereitungen, der Notwendigkeit der Massenagitation, der Weiteraufrechterhaltung der Verbindung zur Arbeiterklasse, nicht genügend Achtsamkeit schenkten.
Der Plan war ein zusammengeflickter Kompromiß zwischen den deutschen, russischen und Kominternführungen. Er sah vor, daß die KPD den Regierungen Sachsens und Thüringens beitritt (die linken SPD-Führer waren bestrebt, sie als „linkes Feigenblatt“ zu benutzen), und dann die Arbeiter aus den Waffenvorräten der Länder bewaffnet. Die Zentralregierung würde dann unweigerlich die Reichswehr einsetzen, wogegen die KPD Widerstand leisten und einen gesamtdeutschen Aufstand durch die proletarischen Hundertschaften einleiten würde.
Der Plan enthielt eine Reihe von zentralen Schwächen. Erstens waren die Linken in der SPD zu einem Bürgerkrieg nicht bereit. Sie zogen alles in die Länge und zogen die KPD mit sich. Zweitens war die KPD so sehr mit technischen und politischen Manövern beschäftigt, daß die politischen Erfordernisse ungenügende Beachtung fanden – die Massenagitation, die Unterstützung und die Führung von Teilkämpfen, ein Hochtreiben der Temperatur zurück auf das Niveau vom August.
Am 20. Oktober marschierte die Reichswehr in Sachsen ein. Die SPD-Mehrheit in der Regierung Sachsens lehnte einen bewaffneten Widerstand oder einen Aufruf zu einem nationalen Generalstreik ab. Die KPD unterwarf sich. Der für den 22. Oktober geplante nationale Aufstand wurde von der Partei wieder abgeblasen. Die Nachricht davon erreichte Hamburg allerdings nicht. Dort fand ein isolierter Aufstand statt, der eben wegen seiner Isolation unweigerlich zerschlagen wurde.
So endete der Deutsche Oktober mit einem Sieg für Stresemann und die Bourgeoisie. Und damit wurde das Schicksal der Komintern endgültig besiegelt.
Es war nicht die entscheidende Niederlage für Deutschland selbst, obgleich es sehr wohl der größte Rückschritt seit 1918 war. Die „Große Koalition“ stützte sich nach wie vor auf die SPD, in anderen Worten auf die Arbeiterbürokratie. Die deutsche Arbeiterbewegung war geschwächt, aber noch intakt. Die KPD wurde zwar für eine Zeitlang verboten, sie wurde aber nicht zerschlagen. 1924 schien sie sogar ihre Stellung gegenüber der SPD gestärkt zu haben. Bei den Nationalwahlen im Mai 1924, den ersten seit 1920, erhielt die KPD 3.693.300 Stimmen gegen die 6.008.900 Stimmen für die SPD, und konnte somit 62 Abgeordnete stellen gegen die 99 Abgeordneten der SPD. In rein parlamentarischer Hinsicht war das ein Fortschritt und wurde auch als solcher von den „linken“ KPD-Führern, die Brandler entfernt hatten, ausgegeben. Vor den Wahlen hatte die KPD lediglich 14 Abgeordnete gehabt.
(Die Nazis bekamen 1.918.300 Stimmen, halb so viel wie die KPD. Dies zeigt, daß die faschistische Gefahr erst nach und zum Teil wegen des Mißerfolges von 1923 wuchs – und keineswegs, als die revolutionäre Welle noch rollte.)
Für die KPD war das in Wirklichkeit kein Fortschritt, sondern ein Rückschritt. Wie Trotzki im Juni 1924 argumentierte:
Bei den letzten Parlamentswahlen erreichte die Kommunistische Partei 3.700.000 Stimmen. Das ist natürlich ein sehr feiner Kern des Proletariats. Aber diese Zahl muß man in ihrer Dynamik einschätzen. Es steht außer Zweifel, daß die Kommunistische Partei in der Periode August-Oktober einen unvergleichlich größeren Stimmenanteil erzielt hätte. Auf der anderen Seite sind genügend Hinweise vorhanden, daß, wenn die Wahlen zwei oder drei Monate später stattgefunden hätten, der Stimmenanteil der Kommunistischen Partei noch kleiner gewesen wäre. Das bedeutet in anderen Worten, daß der Einfluß der Partei abnimmt. Es wäre absurd, die Augen davorzu schließen: Revolutionäre Politik ist nicht die Politik des Strauchs ...
Nach der Niederlage von 1905 [in Rußland] brauchten wir sieben Jahre, bevor die Bewegung, angestachelt durch die Ereignisse von Jena, wieder einen Aufschwung erlebte ... Das deutsche Proletariat erlitt letztes Jahr eine sehr große Niederlage. Es wird eine bestimmte und auch beträchtliche Zeitspanne erfordern, um diese Niederlage zu verdauen, ihre Lehren zu meistern, sich von ihr zu erholen und nochmals Kräfte zu schöpfen; und die Kommunistische Partei wird einen Sieg des Proletariats nur dann sicherstellen können, wenn sie ebenfalls die Lehren aus der Erfahrung des letzten Jahres umfassend und vollkommen meistert.
Wieviel Zeit wird für diesen Prozeß erforderlich sein? Fünf Jahre? Zwölf Jahre? Eine präzise Antwort ist nicht möglich ... Aber im gegenwärtigen Augenblick beobachten wir eine Ebbe und keine Flut, und unsere Taktik sollte natürlich dieser Situation angepaßt werden. [23]
Der tatsächliche Ausgang für die KPD war eine völlig unpassende Verschiebung nach links, bis hin zu linksextremistischen Dummheiten. Darauf folgte, im Jahre 1925, eine übermäßige Korrektur nach rechts. Die KPD blieb eine Kraft innerhalb der Arbeiterklasse, wenn auch in der Minderheit verglichen mit der SPD. Sie sollte noch eine große Chance erhalten, die letzte, zwischen 1930 und 1932. Aber zu jenem Zeitpunkt war sie nur noch ein Werkzeug der Komintern, die ihrerseits ebenfalls zu einem bloßen Werkzeug der russischen Außenpolitik degeneriert war.
Will man nicht vor der Wirklichkeit die Augen verschließen, so muß man zugeben, daß gegenwärtig die proletarische Politik der Partei nicht durch ihre Zusammensetzung, sondern durch die gewatige, ungeschmälerte Autorität jener ganz dünnen Schicht bestimmt wird, die man die alte Parteigarde nennen kann. Es genügt ein kleiner innerer Kampf in dieser Schicht, und ihre Autorität wird, wenn nicht untergraben, so doch jedenfalls so weit geschwächt, daß die Entscheidung schon nicht mehr von ihr abhängen wird.
Lenin, Brief an das Zentralkomitee (März 1922) [24]
ES WAR IN RUSSLAND, daß der Oktober 1923 entscheidend war. Der kranke, verbürokratisierte Arbeiterstaat machte einen scharfen Rechtsruck. Die Bürokratie begann, ihr eigenes kollektives Bewußtsein zu entwickeln, das, wie überall sonst, gegen dasjenige anderer Gruppierungen gerichtet war. Im Oktober 1923 wurde sogar Stalin, der sich bereits zum Führer der Bürokratie entwickelte, dazu bewogen zu schreiben: „Die kommende Revolution in Deutschland ist das wichtigste Weltereignis unserer Tage.“ [25]
In bürokratischen Zirkeln verflüchtigte sich diese Stimmung sehr rasch mit der Niederlage. Wir müssen uns diese Zirkel näher anschauen. Auf dem elften Kongreß der russischen Kommunistischen Partei im März-April 1922, dem letzten, an dem Lenin teilnehmen konnte, hatte letzterer in seiner Eröffnungsrede gesagt:
Man nehme doch Moskau – die 4.700 verantwortlichen Kommunisten – und dazu dieses bürokratische Ungetüm, diesen Haufen, wer leitet da und wer wird geleitet? Ich bezweifle sehr, ob man sagen könnte, daß die Kommunisten diesen Haufen leiten. Um die Wahrheit zu sagen, nicht sie leiten, sondern sie werden geleitet ...
Werden die verantwortlichen Kommunisten der RSFSR und der KPR begreifen können, daß sie die Kunst der Verwaltung nicht beherrschen? Daß sie sich einbilden zu leiten, während sie in Wirklichkeit geleitet werden ? [26]
Die große Mehrheit dieser Bürokraten waren politische „Rettiche“: Sie hatten eine dünne rote Haut und waren innen drin ganz weiß. Sie stammten alle aus den russischen Mittelschichten, die nun als sowjetische Beamte wiederauferstanden waren. Wie kam es dazu? Lenins Antwort ist bezeichnend: „Ihre Kultur ist armselig, ist sehr niedrig, aber dennoch steht sie höher als die unsrige. So jämmerlich, so armselig sie sein mag, sie steht dennoch höher als die unserer verantwortlichen kommunistischen Funktionäre, weil diese die Kunst der Verwaltung nicht genügend beherrschen.“ [27]
Diese Stellungnahme ist bezeichnend, denn sie nimmt einfach als gegeben an, daß der Kommunestaat, jener „kein Staat im eigentlichen Sinne mehr“ wie sich Lenin in seinem Staat und Revolution ausdrückt, jener Staat, in dem „jeder Koch regieren wird“ nicht mehr existierte. Die Kontrolle über den Staat war nicht mehr eine Frage der Arbeitermacht, sondern eine Frage des kulturellen Niveaus der Kommunisten verglichen mit dem der „Rettiche“!
Das ist aber Stellvertretertum im höchsten Grad: Die Parteikontrolle über den Staat tritt an die Stelle der Arbeiter. Und Lenin wußte das. Er war ein viel zu tiefsinniger Marxist, um der Wirklichkeit auszuweichen. Er suchte nach Ersatzlösungen, um das Übel zu verringern, bis Hilfe von außen kommen würde, von den Arbeiterklassen der vollindustrialisierten Länder, von Arbeitern, die zur Selbstbefreiung und zum Selbstregieren fähig waren. Die letzten Monate seines bewußten Lebens widmete Lenin, trotz seiner teilweisen Lähmung, zunehmend dem verzweifelten Kampf gegen die Bürokratie im Staat und in der Partei. Daher sein Vorschlag, Stalin vom Posten des Parteigeneralsekretärs zu entfernen. Es war aber ein Kampf von oben, was ja unter den Umständen unvermeidlich war, und „das enorme ungeteilte Prestige“ der alten Garde konnte nicht auf lange Sicht eine „proletarische Politik“ wahren, wenn es nicht bald zu einer wirklichen Verschiebung des internationalen Kräfteverhältnisses der Klassen kam.
Der Deutsche Oktober war eben eine solche Verschiebung, allerdings in die falsche Richtung. Nach Lenins Tod folgten die Kampagnen gegen Trotzki. Dann folgte das „Lenin-Aufgebot“, die massenhafte Rekrutierung von neuen Parteimitgliedern, die sich nicht während der Jahre der Revolution und des Bürgerkriegs angeschlossen hatten, und von denen man annehmen konnte, daß sie jene Kräfte in der Partei unterstützen würden, die die Hebel der Protektion, der Ämtervergabe und in zunehmendem Maße, der Privilegien, in den Händen hielten. Es folgte dann schließlich die „Unabhängigkeitserklärung“ der Bürokratie, die neue Ideologie des „Sozialismus in einem Land“.
Noch im April 1924 hatte Stalin selbst die orthodoxe marxistische Position wiedergegeben: „Die wichtigste Aufgabe des Sozialismus, die Organisation der sozialistischen Produktion, harrt noch ihrer Lösung. Kann diese Aufgabe gelöst werden, kann der Endsieg des Sozialismus in einem bestimmten Lande gesichert werden ohne die gemeinsamen Anstrengungen der Proletarier in anderen fortgeschrittenen Ländern? Nein, das kann nicht geschehen! ... Für ... die Organisation der sozialistischen Produktion, reichen die Anstrengungen eines Landes, besonders eines vorwiegend agrarischen Landes, wie Rußland es ist, nicht aus. Hierfür müssen sich die Proletarier verschiedener fortgeschrittener Länder gemeinsam einsetzen.“ [28]
Aber nach der Niederlage in Deutschland im Oktober 1923 war ein weiteres Festhalten an den Zielen der internationalen proletarischen Revolution nicht mehr so attraktiv. Für die sich festigende und zunehmend privilegierte Bürokratie wurde die Hauptsorge der Frieden um jeden Preis – außer dem ihrer eigenen Entfernung durch die Reaktion im Inland oder im Ausland. Weitere internationale „Abenteuer“ könnten revolutionäre Krisen und vielleicht erneute imperialistische Interventionen in die UdSSR herbeiführen.
Das ist die Grundwahrheit, die allerdings nicht allzu vereinfacht gesehen werden darf. „Privilegien“ waren eine sehr relative Sache und nicht zu vergleichen mit den Unterschieden im Lebensstandard, die zwischen einfachen Arbeitern und den höchsten Bürokraten in der UdSSR heute existieren. Ungefähr 20 Prozent der städtischen Arbeiterklasse waren arbeitslos. Eine sichere Stellung im Büro war ein „Privileg“. Die Aussicht auf eine solche Stellung durch treue Dienste an „die Partei“, sprich die Parteimaschinerie, war ein starker Anreiz zum Konformismus. Und dieser konservative Trend in der Arbeiterklasse wurde noch durch die Entstehung einer Schicht von relativ bessergestellten Bauern aus den Reihen der bäuerlichen Mehrheit heraus begünstigt. Das waren die sozialen Kräfte, auf die Stalins Parteimaschine aufgebaut werden sollte.
Die Losung des „Sozialismus in einem Land“ entsprach den Bedürfnissen und Bestrebungen der neu entstehenden Bürokratie. Sie erlaubte es, die gesamte Aufmerksamkeit auf ein nationales Kampffeld zu konzentrieren, das man zu kontrollieren hoffen konnte, anstelle des internationalen Klassenkampffeldes, das jenseits der eigenen Kontrolle lag. Gleichzeitig war diese Losung ein Banner, um das sich die Bürokratie scharen konnte. Wie es Trotzki ausdrückte, der Sozialismus in einem Land „war ein fehlerloses Abbild der Stimmung der Bürokratie: Wenn diese vom Sieg des Sozialismus sprach, meinte sie damit ihren eigenen Sieg.“ [29]
Das war aber erst der Anfang vom Kampf. 1923-1924 spürte die russische Bürokratie erst die anfänglichen Regungen ihres politischen Bewußtseins als unabhängige soziale Kraft. Eine Reihe von bitteren politischen und ökonomischen Kämpfen mußten ausgetragen werden, bevor sie sowohl Partei als auch Staat mit dem zentralen und alles bestimmenden Ziel der nationalen Entwicklung unter ihre Kontrolle bekommen konnte.
Ende 1923 war Stalins Parteimaschine noch weit davon entfernt, den wichtigsten Kommunistischen Parteien diktieren zu können. Revolutionären Tendenzen daheim und im Ausland gegenüber mußte sie sich immer noch umsichtig zeigen. Sie brauchte Verbündete mit einem besseren revolutionären Leumund als ihren eigenen und sie brauchte Zeit, um die immer noch mächtigen Traditionen der ersten vier Kongresse der Komintern abzuschaffen. Unmittelbar nach dem deutschen Oktober warf sie sich deshalb hinter Sinowjews „Linksorientierung“, um sich damit des authentischen Produkts, des von Trotzki vertretenen revolutionären Internationalismus, umso leichter entledigen zu können.
Ab Dezember 1924 war die Beteuerung seines Glaubens in den „Sozialismus in einem Land“, in anderen Worten in Rußland, zu einem Prüfstein für Parteitreue und Zuverlässigkeit geworden. Jene, die so unvorsichtig waren, sich jener Position anzuschließen, die selbst Stalin erst wenige Monate zuvor verteidigt hatte, übertraten damit die Grenzen des Erlaubten.
Die Auswirkungen davon auf die Komintern waren tiefgreifend. Die Komintern wurde immer noch gebraucht. Rußland war wirtschaftlich und militärisch schwach. Seine Herrscher brauchten jede Unterstützung aus dem Ausland, die sie kriegen konnten. Es war jetzt unvermeidlich, daß sich die Komintern zunehmend von Erwägungen der russischen Außenpohtik und nicht mehr der internationalen proletarischen Revolution leiten ließ. Und dies erforderte ihre Umwandlung in ein gehorsames Instrument Moskaus und schließlich in eine konservative Kraft. Es brauchte seine Zeit, bis diese Entwicklung zum Abschluß kam. 1923 markierte aber den Wendepunkt.
Mit * versehene Zitate konnten aus Zeitgründen nicht endgültig;ltig in deutschen Originaltexten geortet werden. Sie sind also aus dem Englischen übersetzt worden.
1. Trotzki, Die III. Internationale nach Lenin, Dortmund 1977, Buchverlag Wolfgang Dröge, S.136f.
2. Carr, The Interregnum 1923-4, London 1969, S.5.
3. Lenin, Werke, Bd.33, S.266.
4. Trotzki, Die III. Internationale nach Lenin, S.244.
5. Frank, Geschichte der Kommunistischen Internationale (1919-1943), Frankfurt 1981, isp-Verlag, Bd.1, S.307.
6. Carr, Interregnum, S.198. Siehe auch Frank, a.a.O., S.306.
7. Carr, a.a.O., S.198.
8. ebenda, S.199; Imprekorr, Nr.57, 3.4.23. S.464 oder KI, Nr.26-27, 24.8.23.*
9. Lenin, Werke, Bd.25, S.295f. (Hervorhebung im Original)
10. Carr, a.a.O., S.200.
11. Gruber, International Communism in the Era of Lenin, S.169f; siehe auch Frank, a.a.O., S.309. Imprekorr, Nr.120, 18.7.23, S.1051-3 *
12. Trotzki, Die Lehren des Oktober, Dortmund 1978, Buchverlag Wolfgang Dröge, S.14.
13. Anderson, Hammer oder Amboß, Nest-Verlag, Nürnberg 1949, S.123f.
14. Weber, Der Deutsche Kommunismus 1915-1945, Köln 1973, Kiepenheuer & Witsch, S.172.
15. Harman, Die Verlorene Revolution, S.278. Die Kapitel 11, 12 und 13 sind die wesentlichen über den Deutschen Oktober. Siehe auch Frank, a.a.O., S.263f oder Broué, Die Deutsche Revolution (1918-1923), Berlin 1973, Verlag Neuer Kurs, S.104f.
16. Wohl, French Communism in the Making, Stanford 1966, S.319f.
17. Dies war die sogenannte „Schlageter-Agitation“. Siehe Harman, a.a.O., S.314-316; siehe auch Frank, a.a.O., S.258f.
18. Rote Fahne, 24.7.1923 *
19. Carr, Interregnum, S.195; Thalheimer, Eine verpaßte Revolution, 1931, S.31.
20. Carr, a.a.O., S.209.
21. Albert, zitiert in Broué, a.a.O., S.131; Albert war das Pseudonym, unter dem Victor Serge zeitweilig schrieb.
22. Rote Fahne, 10.10.23, Mikro-Film-Archiv, Sozialwissenschaftliche Bibliothek der Universität Hannover.
23. Trotsky, Through what stage we are passing?, in Challenge of the Left Opposition (1923–25), New York 1975.
24. Lenin, Werke, Bd.33, S.243.
25. Rote Fahne vom 10.10.1923, Mikro-Film-Archiv der sozialwissenschaftlichen Bibliothek der Universität Hannover.
26. Lenin, Werke, Bd.33, S.275f.
27. Lenin, Werke, Bd.33, S.275.
28. Stalin, Probleme des Leninismus, Wien/Berlin 1927, zit. in Deutscher, Josef Stalin, Verlag Olle und Wolter, Berlin 1979, S.304.
29. Trotzki, Verratene Revolution, Verlag Die Vierte Internationale 1971, S.282.
Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003