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Duncan Hallas, Building the leadership, International Socialism 40 (1. Serie), Oktober/November 1969.
Transkription: Internationale Sozialisten.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Innerhalb der britischen Linken zeichnet sich die „Socialist Labour League“ (SLL) [1] durch den Aktivismus ihrer Mitglieder und durch ihre bittere Feindseligkeit gegenüber allen anderen politischen Organisationen aus. Gut bekannt ist die sektiererische Haltung der SLL (z.B. ihre Ablehnung einer Teilnahme an der Vietnam-Solidaritätskampagne [1968]) und die langatmige Polemik in ihrer Presse gegen mehr oder weniger unbekannte „Revisionisten“. Bekannt sind auch die Beschwerden ehemaliger Mitglieder über die angeblich bürokratisierte und autoritäre interne Führung der Organisation. Das charakteristischste Merkmal der SLL ist jedoch wohl ihre extreme Betonung der beiden Themen „Führung“ und „Verrat“, und dies im Zusammenhang mit ständigen Voraussagungen über das nahe Bevorstehen einer katastrophalen Wirtschaftskrise.
Einige der heftigsten Kritiken an dieser Gruppe kommen gerade von denen, die manche oder sogar die meisten ihrer grundlegenden politischen Analysen teilen. Diese Kritiker machen gewöhnlich die persönlichen Eigenarten der politischen Führer der SLL für die Mängel der Gruppe verantwortlich.
Dieser Artikel möchte behaupten, daß eine solche Kritik ihr Ziel verfehlt. Die SLL behauptet die Verkörperung des „orthodoxen Trotzkismus“ zu sein. Für diese Behauptung gibt es schon eine gewisse Berechtigung. Die gegenwärtige Politik der SLL wurzelt in dem Übergangsprogramm der Vierten Internationale von 1938. Die Fehler der SLL entspringen hauptsächlich aus dem Versuch, diese Analyse auf eine Weltsituation anzuwenden, in der sie irrelevant bzw. falsch ist.
Eine ernsthafte Kritik der Politik der SLL kann sich nicht nur mit der Kritik der Ansichten der führenden Theoretiker dieser Organisation begnügen, sondern muß eine Diskussion der ursprünglichen politischen Tradition der Vierten Internationale einschließen, deren Grundsätze in Großbritannien am konsequentesten von der SLL verteidigt werden.
Dieses konsequente Festhalten der SLL an den ursprünglichen Theorien der Vierten Internationale hat allerdings Grenzen. Bevor sie 1953 mit den führenden Theoretikern der Vierten Internationale (Pablo, Mandel, Frank usw.) brachen, machten die Vorläufer der SLL eine gemeinsame Entwicklung mit der Vierten Internationale durch. Diese Periode (1944-53) war von entscheidender Bedeutung. Damals waren die trotzkistischen Gruppierungen gezwungen, eine Analyse des Wiederaufschwungs des Kapitalismus und der Ausbreitung des stalinistischen Regimes zu versuchen, da sie mit einer Situation konfrontiert waren, die ganz anders war als die, die sie auf Grund des Übergangsprogramms von Trotzki erwartet hatten.
Auf diese Periode, und besonders auf die Phase von 1944 bis 1948, geht die Verfestigung des Trotzkismus zur „Orthodoxie“ zurück; einer Orthodoxie, die eine Anzahl sich widersprechender Ideen beinhaltet und die sich immer mehr vom Geist ihres Gründers entfernt. Um diese Entwicklung verstehen zu können, ist es notwendig, auf die Gründung der Vierten Internationale zurückzugehen.
Die politische Situation der Welt als Ganzes ist hauptsächlich durch eine geschichtliche Krise der Führung des Proletariats gekennzeichnet.
Trotzki: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale (Das „Übergangsprogramm“ von 1938)
Im September 1938 erklärte sich eine Versammlung von 21 Delegierten von 11 Organisationen zur Gründungskonferenz der Vierten Internationale, Weltpartei der Sozialistischen Revolution. [2] Keine der in dieser Versammlung vertretenen Organisationen hatte eine nennenswerte Basis in der Arbeiterklasse. Die meisten von ihnen waren winzige Grüppchen, und die größte unter ihnen die damals gerade gebildete „Socialist Workers Party“ (SWP) der USA – zählte nur 2.000 Mitglieder und befand sich bestenfalls am Rande der amerikanischen Arbeiterbewegung. Der Kontrast zwischen dieser Versammlung relativ isolierter Revolutionäre und den Gründungskonferenzen der früheren Internationalen muß allen Teilnehmern offensichtlich gewesen sein. Die bewegende Kraft und der führende Geist hinter dem Kongreß war der Verfasser des Gründungsprogramms, Leo Trotzki. Das Programm wurde unter Zeitdruck und in großer Eile angenommen. Der ganze Kongreß dauerte genau einen Tag. In Trotzkis Augen war die Bildung einer „Internationale“ ohne jegliche Massenbasis durch den außergewöhnlichen Charakter der Weltsituation gerechtfertigt.
Was war das für eine Situation? Nach Trotzki: „Der Zerfall des Kapitalismus hat extreme Grenzen erreicht, ebenfalls der Zerfall der alten herrschenden Klasse. Das Weiterbestehen dieses Systems ist unmöglich.“ [3]
Im Übergangsprogramm heißt es: „Die ökonomischen Voraussetzungen zur proletarischen Revolution haben im allgemeinen schon das höchste Entwicklungsstadium erreicht, das unter dem Kapitalismus erreicht werden kann. Die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren.“ [4]
Daraus folgt, daß „das Proletariat unter den Bedingungen des verfaulenden Kapitalismus weder zahlenmäßig noch kulturell wächst.“ [5]
Also muß man jetzt oder niemals handeln. „Wenn der gegenwärtige Krieg [d.h. der Krieg von 1939-45 – D.H.] jedoch keine Revolution hervorrufen sollte, sondern einen Niedergang (Verfall) des Proletariats, dann bleibt doch noch eine Alternative: der weitere Verfall des Monopolkapitalismus und des weitere Verschmelzung mit dem Staat und das Ersetzen der Demokratie da, wo sie noch übriggeblieben, durch ein totalitäres Regime.“ [6]
Aus dieser Perspektive gesehen hatten die reformistischen, sozialdemokratischen Organisationen offenbar keine Zukunft. Der Reformismus als Massenbewegung ist auf die Möglichkeit von Reformen angewiesen, also von ökonomischen Wachstum irgendeiner Art. Wenn dies für immer ausgeschlossen ist, was Trotzkis Meinung nach der Fall war, dann muß die Massenbasis der Sozialdemokratie rasch verschwinden. Er drückte sich ganz unmißverständlich über die Unmöglichkeit einer erfolgreichen reformistischen Strategie in den kommenden Jahren aus.
Im allgemeinen kann nicht von systematischen sozialen Reformen und von Hebung des Lebensstandards der Massen geredet werden, wenn ja jede ernsthafte Forderung des Proletariats und sogar jede ernsthafte Forderung des Kleinbürgertums zwangsläufig über den Rahmen der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse und des bürgerlichen Staates hinausweisen. [7]
Was die Kommunistischen Parteien anbetrifft:
Die Dritte Internationale hat sich zu einem Zeitpunkt auf den Weg des Reformismus begeben, wo die Krise des Kapitalismus die proletarische Revolution eindeutig klar auf die Tagesordnung gesetzt hat. Die Bürokratie, die in der UdSSR zu einer reaktionären Macht wurde, kann im Weltmaßstab keine revolutionäre Rolle spielen. [8]
Das Übergangsprogramm spricht vom „unverkennbaren Übergehen der Komintern auf die Seite der bürgerlichen Ordnung, ihrer zynisch konterrevolutionären Rolle überall auf der Welt.“ [9]
Zusammenfassend: Der Kapitalismus war zu einer weiteren Entfaltung unfähig und war schon im Begriff seines Niedergangs. Die Basis des Reformismus war damit ebenfalls verschwunden, und die Kommunistischen Parteien hatten bereits reformistischen Charakter angenommen. Die Alternativen waren einerseits Revolution oder, im Falle des Ausbleibens von Revolutionen, eine Massenverelendung der Arbeiter und eine weitere Ausdehnung totalitärer Regime.
Orwells Roman 1984, der ein paar Jahre später geschrieben wurde, schildert die Art von Gesellschaft, die Trotzkis Meinung nach kommen müßte, wenn die proletarische Revolution in absehbarer Zeit nicht stattfinden sollte.
Ein totalitäres Regime, ob stalinistischen oder faschistischen Typs, kann seinem Wesen nach nur ein vorübergehendes, ein Übergangsregime sein.
Trotzki: Die UdSSR im Krieg
Während sich der Monopolkapitalismus in seinem Todeskampf befand, war das stalinsche Regime in der UdSSR nach Trotzki höchst instabil. Er betrachtete die herrschende Bürokratie nicht als eine Klasse, sondern als eine bonapartistische Gruppe, die „gerufen wurde, um im Gegensatz zwischen Proletariat und Bauernschaft zu vermitteln.“ [10]
Daher ihre äußerst unsichere Position. „Der Bonapartismus kann sich seinem Wesen nach nicht lange halten: Eine Kugel, die auf der Spitze einer Pyramide balanciert, muß zwangsläufig in jedem Fall die eine oder die andere Seite hinunterrollen.“ [11]
Der rechte Flügel der Bürokratie, also die „faschistischen, konterrevolutionären Elemente, die ununterbrochen wachsen, drücken mit immer größer werdender Konsequenz die Interessen des Weltimperialismus aus. Diese Kandidaten für die Rolle des Kompradors (= Eingeborener, der die Geschäfte der Kolonialherren besorgt) meinen – nicht ohne Grund –, daß die neue herrschende Schicht ihr privilegierten Positionen nur durch Ablehnung der Verstaatlichung Kollektivierung und des Außenhandelsmonopols sichern können wird. Von ihnen, d.h. von rechts, können wir in der nächsten Zeit immer entschlossenere Versuche erwarten, den sozialistischen Charakter der UdSSR zu revidieren und sie (die SU) immer mehr der „Abendländischen Zivilisation“ in ihrer faschistischen Form anzugleichen.“ [12]
Die Alternativen, vor denen die UdSSR stand, waren einfach.
Entweder wird die Bürokratie, die ja immer mehr zum Organ der Weltbourgeoisie im Arbeiterstaat wird, die neuen Eigentumsformen umstürzen und das Land in den Kapitalismus zurückwerfen, oder die Arbeiterklasse wird die Bürokratie zerschlagen und den Weg zum Sozialismus anbahnen. [13]
Diese Alternativen bezogen sich nicht auf eine ferne Zukunft. Sie standen unmittelbar bevor. Fragend schreibt Trotzki gegen Ende 1939: „Machen wir uns nicht lächerlich, wenn wir der bonapartistischen Oligarchie den Namen einer neuen herrschenden Klasse zuerkennen, und das wenige Jahre oder gar nur Monate vor ihrem ruhmlosen Sturz?“ [14]
Die Geschichte hat aber auch uns unrecht gegeben, hat unsere damaligen Ansichten als eine Illusion enthüllt. Sie ist noch weiter gegangen: Sie hat nicht nur unseren damaligen Irrtum zerstört, sie hat auch die Bedingungen total umwälzt, unter denen das Proletariat zu kämpfen hat.
Engels’ Einleitung zu Die Klassenkämpfe in Frankreich
Zu der Zeit, in der er sie entwarf, war Trotzkis Darstellung des Zustandes und der Aussichten des „Kapitalismus“ eine plausible. Jetzt steht indessen fest, daß er sich irrte. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte der Kapitalismus – weit davon entfernt zusammenzuschrumpfen – eine beispiellose Expansion. Kidron [ein Theoretiker von International Socialism – der Übersetzer] wies darauf hin, daß „das System als Ganzes noch nie zuvor so schnell und so lange ununterbrochen gewachsen ist wie in der Zeit seit dem Krieg – doppelt so schnell zwischen 1950 und 1964 wie zwischen 1913 und 1950 und beinahe noch einmal doppelt so schnell wie in der Generation vor 1913.“ [15]
Infolgedessen wurden die Sozialdemokratischen und Kommunistischen Parteien – weit davon entfernt, sich aufzulösen – in der Nachkriegszeit stärker, sowohl rein zahlenmäßig als auch im Hinblick auf ihre Unterstützung durch die Massen. Der Reformismus gedieh in den entwickelten kapitalistischen Ländern auf der Basis eines sich erhöhenden Lebensstandards. [16]
In der UdSSR stellt sich heraus, daß die Vorstellung von einem „restaurativen“ Flügel der Bürokratie trügerisch gewesen war. Die UdSSR ging aus dem Krieg stärker denn je hervor. Die Herrschaft der Bürokratie war auf der Basis der verstaatlichten Industrie gefestigt. Schlimmer noch, sie expandierte und setzte mit Zwang Staatsformen nach russischem Muster in Osteuropa und Nordkorea durch und liquidierte die ehemaligen herrschenden Klassen dieser Länder. In Jugoslawien und Albanien ergriffen nationale Kommunistische Parteien die Macht und schufen Regime, deren Struktur sich in keinster Weise vom stalinistischen Muster unterschieden. Wenig später folgten China und auch Nordvietnam auf dem gleichen Weg.
Diese Entwicklungen höhlten die ursprünglichen Perspektiven der Vierten Internationale aus. Ihre Gründung beruhte auf zweierlei Annahmen: 1.) daß die Ereignisse in Kürze die alten Massenparteien, ob sozialdemokratische oder stalinistische, wegfegen würden; 2.) daß die stalinistischen Kommunistischen Parteien auf jeden Fall keine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft herbeiführen könnten.
Die Versuche der Vierten Internationale, mit diesen Problemen fertig zu werden, erzeugten eine Polarisierung zwischen – um mit der SLL zu sprechen – „Orthodoxie“ und „Revisionismus“.
Das erste Merkmal einer wahrhaften revolutionären Partei ist, der Realität ins Gesicht sehen zu können.
Trotzki: Die Wende in der Kommunistischen Internationale und die Situation in Deutschland
Den ursprünglichen Kern der SLL bildete eine Minderheitsgruppierung innerhalb der damaligen britischen Sektion der Vierten Internationale, der Revolutionary Communist Party (RCP) [Revolutionäre Kommunistische Partei]. Zwischen prominentesten Mitgliedern der Minderheit (Gerry Healy und John Lawrence) und der Mehrheit der Organisation entwickelte sich eine Reihe von politischen Streitpunkten. Healy und Lawrence identifizierten sich mit den Ansichten der amerikanischen SWP, die in Europa hauptsächlich durch drei Männer vertreten wurden: Germain (Ernest Mandel), Pablo und Frank, die den Kern dessen bildeten, was später zum Internationalen Sekretariat der Vierten Internationale (ISVI) wurde. Beinahe ein Jahrzehnt lang vertraten die SWP und das ISVI und der Vorläufer der SLL praktisch identische Positionen zu allen Fragen.
Sie bildeten gemeinsam eine Tendenz, die gekennzeichnet war durch theoretischen Konservatismus und einen ausgesprochenen Widerwillen gegen alle Abweichung von Trotzkis Schriften, die sie hin und wieder fast zum Status heiliger Schriften erhoben. Infolgedessen begann ihre Einschätzung der Weltsituation immer mehr von der Realität abzuweichen.
Dies wurde zu einem sehr frühen Zeitpunkt offenbar. Der Krieg hatte in der Tat einen revolutionären Aufschwung in Europa hervorgerufen – wie es Trotzki vorher gesagt hatte. Dieser Aufschwung verlieh den Kommunistischen und Sozialdemokratischen Parteien neue Kraft. Die Politik der Kommunistischen Parteien war der Schlüsselfaktor. Sie benutzten ihre Massenbasis, um die Wiederherstellung der durch den Krieg zertrümmerten Staatsapparate zu ermöglichen. Im Westen waren diese Staatsapparate im wesentlichen bürgerlich, im Osten waren sie, wie die Ereignisse beweisen sollten, im wesentlichen stalinistisch. In beiden Fällen, im Osten wie im Westen, standen an der Spitze der Staatsapparate scheinbar ähnliche Koalitionsregierungen, die aus Kommunisten, Sozialdemokraten und „linken“ bürgerlichen Parteien bestanden. Im Osten wie im Westen wurde die unerläßliche ideologische Unterstützung dieser Entwicklungen durch die Arbeiterparteien ergänzt durch gewaltsame Unterdrückungsmaßnahmen – manchmal, wie z.B. in Griechenland, überwog dabei die gewaltsame Unterdrückung. Aber es handelte sich dabei doch nur um eine Ergänzung. Besonders in den Schlüsselländern Frankreich und Italien – war die offene, gewaltsame Unterdrückung, obwohl tatsächlich vorhanden, nur eine Randerscheinung. Die entscheidende konterrevolutionäre Rolle spielten die kommunistischen Parteien mit ihrer beträchtlich größer gewordenen Massenbasis.
So weit, so gut. Dies war genau das, was Trotzki vorher gesagt hatte. Aber ohne Trotzkis Führung machten die unter dem Einfluß der SWP stehenden Trotzkisten einen strategischen Fehler von äußerster Wichtigkeit. Sie machten sich die Perspektive zu eigen, nach der Europa entweder eine sozialistische Revolution oder eine Militärdiktatur unmittelbar bevorstehe.
Die Erfahrung sowohl in den durch die Rote Armee „befreiten“ Ländern als auch in den durch die alliierten Armeen „befreiten“ Ländern lehrt schon, daß die ruinierte Bourgeoisie, die ja unfähig ist, den Massen auch nur die kleinsten Zugeständnisse zu machen und die durch deren wachsende Agitation unmittelbar bedroht wird, von Anfang an nach „starken“ Lösungen greift, also nach Polizei- und Militärdiktaturen, die sich auf die Besatzungstruppen und die nationalen faschistischen Kräfte stützen können, die auch schon während der deutschen Besatzungszeit dazu benutzt wurden, die Massenbewegung zu brechen. Eine relativ lange, demokratische Zwischenperiode, die bis zum endgültigen Siege entweder der sozialistischen Revolution oder noch einmal des Faschismus dauert, wird unmöglich sein. [17]
Diese groteske Einschätzung basierte natürlich auf einer allzu wörtlichen Interpretation von Trotzkis letzten Schriften. Es machte deutlich, daß die Führer der SWP und deren europäischen Altardienern das Zitieren aus „den Texten“ dem Versuch einer Analyse der tatsächlichen Situation vorzogen. Die dieser Einschätzung zu Grunde liegende Annahme, daß „in sämtlichen „befreiten“ Ländern die Bourgeoisie zu einem Wiederaufbau des wirtschaftlichen Lebens unfähig ist“ [18] leitet sich direkt ab aus der ökonomischen Katastrophenperspektive der Jahre 1938-40.
Dies war ein schwerwiegender Fehler. Noch sehr viel schwerwiegender war die Entschlossenheit der neu sich bildenden „internationalen Führung“, auch dann noch bei dieser Einschätzung zu beharren, als deren Absurdität immer offensichtlicher wurde. Genau dies tat die „internationale Vorkonferenz“ von 1946. Ihr Manifest (von Ernest Mandel entworfen) verkündete mutig:
Es besteht überhaupt kein Grund zu der Annahme, daß wir einer neuen Epoche der kapitalistischen Stabilisierung und Entwicklung gegenüberstünden. Ganz im Gegenteil. Der Krieg hat lediglich so gewirkt, daß das Mißverhältnis zwischen der erhöhten Produktivität der kapitalistischen Ökonomie und der Fähigkeit des Weltmarktes, sie zu absorbieren, verschlimmert worden ist ... [19]
Zu der Zeit, da diese ökonomische Weisheit verkündet wurde, war die revolutionäre Welle schon im Abschwung und es sprach alles dafür, daß ein ökonomischer Aufschwung auf der Tagesordnung stehe. Das Journal der RCP (britische Sektion) stellte damals dagegen fest:
Die klassischen Voraussetzungen für einen Boom sind heute in Europa vorhanden. Knappheit an Kapitalgütern (Produktionsmitteln); Knappheit an landwirtschaftlichen Produkten; Knappheit an Konsumgütern ... Die Stellungnahme der Internationalen Vorkonferenz speziell hierzu, die auch von einer Minderheit der britischen Partei [d.i. Healy, Lawrence, usw. – D.H.] unterstützt wird, nach der die europäischen Länder auf einer Entwicklungsebene stehenbleiben würden, die einer Stagnation und einer Wirtschaftskrise entspricht, ist völlig falsch. [20]
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Healy-Lawrence-Gruppe zu einer gut organisierten Fraktion innerhalb der RCP entwickelt. Sie hatte zwei Grundsätze: bedingungslose Unterstützung der „internationalen Führung“ in allen umstrittenen Fragen und die sofortige Auflösung der RCP und der darauffolgende Eintritt in die Labour Party. In bezug auf die letztere Frage hatte sie zweifelsohne recht, aber aus genau den entgegengesetzten Gründen, die sie selbst für diese Taktik angab. Die Position der Minderheit (Healy, Lawrence) war, daß der völlige ökonomische Stillstand eine Massenradikalisierung der Arbeiter herbeiführen würde, und daß diese Arbeiter massenweise in die Labour Party hineinströmen würden. Eine revolutionäre Krise stehe unmittelbar bevor, und es gebe keine Zeit mehr, eine eigenständige Partei aus dem Nichts aufzubauen. Die aktuelle Aufgabe bestehe darin, sich an jener massiven linken Strömung zu beteiligen und deren Führung zu übernehmen, die aus der Labour Party infolge der revolutionären Krise unweigerlich hervorgehen werde.
Die Mehrheit lehnte dieses Trugbild ab und prophezeite eine Fortsetzung des schon offensichtlichen ökonomischen Aufschwungs. Zum Teil, weil sie die Dauer und das Ausmaß dieses Aufschwungs unterschätzte, hat es die Mehrheit bis 1949 unterlassen, die Konsequenz zu ziehen, daß eine unabhängige revolutionäre Partei in dieser Periode nicht aufgebaut werden könne. Mit der Zustimmung der Internationale trennten sich die beiden Richtungen 1947: Die Minderheit ging in die Labour Party, wo sie die Politik der SWP-ISVI weiterhin vertrat. Bisher hatte der Versuch, sich an der ökonomischen Analyse des Übergangsprogramms zu orientieren, zu Irrtümern bis hin zur Absurdität geführt. Bald sollte er auch zur Unehrlichkeit führen. Im April 1948 fand der Zweite Weltkongreß der IV. Internationale statt. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Boom unverkennbar, der Marshall-Plan war schon in vollem Gang, und nur ein von einem anderen Planeten gerade hergereistes Wesen hätte es sich zu diesem Zeitpunkt noch leisten können, die ökonomische Stabilisierung des Kapitalismus zu leugnen, die man zwei Jahre zuvor, 1946, von der Hand gewiesen hatte. Unter solchen Umständen würde eine ernsthafte revolutionäre Tendenz – so müßte man annehmen können – alles unternehmen, um die Ursprünge der Fehleinschätzungen aufzudecken, Was geschah aber dann tatsächlich?
Die Hauptresolution, die der Kongreß verabschiedete, verkündete schamlos:
Der Kongreß vom April 1946 hat die durch den zweiten imperialistischen Krieg bewirkten Veränderungen richtig analysiert ... Die immense Zerstörung, Verarmung und Inflation, die der Krieg sowohl in Europa als auch in einigen Kolonial- und Halbkolonialländern herbeigeführt hat und die daraus resultierende Erschütterung des Weltmarktes bilden zusammen die Ursache für die extreme Unregelmäßigkeit des ökonomischen Aufschwunges in diesen Ländern, was die Dokumente der April-Konferenz im allgemeinen alles voraussahen. [21]
Wenn man ernsthaft diskutiert hätte, was 1946 tatsächlich geschrieben worden war – und ferner, warum es Quatsch war –, dann hätte eine solche Diskussion unerbittlich zu dem Schluß geführt, daß die „revisionistische“ RCP-Mehrheit (und andere oppositionelle Gruppen) recht gehabt hatten und, daß die „orthodoxen Trotzkisten“ sich völlig geirrt hatten.
Aus einer unkontrollierten Kaste, die dem Sozialismus fremd gegenübersteht, hat sich die Bürokratie zu einer unkontrollierbaren Kaste entwickelt, die dem Sozialismus in Todesfeindschaft gegenübertritt – sowohl in Rußland als auch im Weltmaßstab.
Die UdSSR und der Stalinismus, Resolution des Zweiten Weltkongresses der IV. Internationale
In den Jahren 1944-45 erlangte die russische Armee die Kontrolle über die größten Teile Osteuropas. Die Staatsapparate in den Ländern dieser Region waren in einen Zustand der totalen Abhängigkeit von der deutschen Wehrmacht gebracht worden, und deren Zerstörung bedeutete auch ihre Zerstörung. Sie wurden durch neue Herrschaftsstrukturen ersetzt, die unter dem Schutz der Russen errichtet wurden und die ihr Personal zum Teil aus den sich im Untergrund (und in der Emigration) befindlichen Kommunistischen Parteien bezogen, aber auch zum Teil aus dem Personal, das schon den Marionettenstaaten der Deutschen gedient hatte. [22] Wie schon vermerkt, wurden Koalitionsregierungen eingerichtet, in denen sämtliche „anti-faschistische“ Tendenzen einschließlich der bürgerlichen Parteien „repräsentiert“ waren. In der Tat aber befanden sich von Anfang an die effektive Macht in den Händen der jeweiligen örtlichen stalinistischen Hierarchien, die sich ihrerseits, ausgenommen in Jugoslawien und Albanien, auf die russische Armee stützten.
Die bedeutenden revolutionären Bewegungen, die sich entwickelt hatten, wurden wirksam ausgeschaltet. [23]
Zwischen 1944 und Anfang 1948 wurden die Großgrundbesitzer in den Teilen Osteuropas, wo sie noch einen wichtigen Teil der herrschenden Klasse gebildet hatten, durch Landreformen liquidiert. Darüberhinaus wurden die entscheidenden Sektoren der Industrie überall verstaatlicht. [24]
Kurz gesagt wurde die Sozialstruktur, wenn auch nicht die formale politische Struktur, in eine solche verwandelt, die im wesentlichen mit der der UdSSR identisch war. Bedeutete dies, daß der Stalinismus stärker denn je aus dem Krieg hervorgegangen sei? Eine solche Einschätzung steht in einem klaren Widerspruch zu der Analyse des Übergangsprogramms. Also muß sie falsch sein! Die Resolution der Internationalen Konferenz von 1949 bemerkte pflichtgetreu:
Der Krieg hat für die UdSSR den totalen Zusammenbruch der nationalistischen Politik der Selbstgenügsamkeit gebracht, wie sie in der Theorie des „Aufbaus des Sozialismus in einem Lande“ formuliert wurde. Gleichzeitig bedeutet der Krieg den Anfang einer Periode, in der das Schicksal der durch die Oktoberrevolution etablierten Regimes [des stalinistischen Regimes – DH] endgültig für immer entschieden wird ... In der Kraftprobe, wie sie in den gegenwärtigen Beziehungen zwischen dem Imperialismus und der UdSSR sichtbar geworden ist, kann nur das Eingreifen der proletarischen Revolution die Sowjetunion vor einem frühzeitigen und tödlichen Ende retten. [25]
Damit war allerdings noch nicht das Problem einer Analyse des Klassencharakters der neuen osteuropäischen Staaten aus der Welt geschaffen. Die Frage war nicht bloß eine der richtigen Begriffe. Wenn zugegeben wird, daß eine ganze Reihe Arbeiterstaaten durch die stalinistische Bürokratie geschaffen werden kann, oder durch die lokalen Kommunistischen Parteien oder durch eine Kombination von beiden, dann ist es Unsinn zu behaupten, daß der Stalinismus unfähig sei, den Kapitalismus zu stürzen. Doch war eben dies eine der zentralen Annahmen, auf denen die IV. Internationale gegründet worden war. Wenn aber andererseits Regime mit einer auf verstaatlichten Eigentumsverhältnissen beruhende Planwirtschaft kapitalistische Staaten sind, dann ist es umgekehrt Unsinn, die UdSSR als Arbeiterstaat zu bezeichnen.
Verzweifelte Versuche wurden gemacht, dem Dilemma aus dem Weg zu gehen. Argumente wurden vorgebracht, deren metaphysische Spitzfindigkeit der mittelalterlichen Theologie in nichts nachstand. Aber nichtsdestoweniger mußte man irgendwann Stellung beziehen. Schließlich müßte die Führung der „Weltpartei der Sozialistischen Revolution“ eigentlich in der Lage sein, einen Arbeiterstaat von einem kapitalistischen Staat zu unterscheiden, selbst wenn sie einen Boom von einer Rezession nicht unterscheiden konnte!
Der Zweite Weltkongreß traf die einzige Entscheidung, die es ihr überhaupt ermöglichte, einerseits an der Trotzki’schen Stalinismusanalyse festzuhalten, und andererseits nicht den zentralen Kern des Marxismus aufgeben zu müssen, nämlich die Bezeichnung der Arbeiterklasse als Träger der sozialistischen Revolution. Die als „Puffer“-Länder bezeichneten Staaten blieben kapitalistisch.
Das kapitalistische Wesen der Ökonomie der „Pufferzone“ ist ... offensichtlich. ... In den „Puffer“-Ländern bleibt der Staat ein bürgerlicher. [26]
Außerdem heißt es:
Die kapitalistische Natur dieser Länder verlangt mit Notwendigkeit nach einer Politik des eindeutigen revolutionären Defaitismus in Krisenzeiten. [27]
Was die politische Struktur anbetrifft:
Der Staat der „Pufferländer“ stellt gleichzeitig eine extreme Form des Bonapartismus dar. [28]
Und die UdSSR? Sie bleibt weiterhin ein degenerierter Arbeiterstaat! Die „Orthodoxie“ war durchgehalten worden, aber um den Preis der Annahme zweier sich offensichtlich widersprechender Positionen. Die „Orthodoxen“ hatten es abgelehnt, die Mücke des „Revisionismus“ zu schlucken. Bald sollten sie das Kamel der chinesischen Revolution schlucken müssen. Während die Delegierten sich berieten, näherten sich die Armeen von Mao Tse-tung dem Jangtse-Fluß. Bis zum Ende des Jahres beherrschte die chinesische Kommunistische Partei das gesamte chinesische Festland. Die Orthodoxen wankten nicht. Rußland sei ein degenerierter Arbeiterstaat, Maos China ein kapitalistischer Staat!
Nachdem Mao schon ein Jahr an der Macht gewesen war, erklärte das theoretische Organ der SWP: „Einige bürgerliche Kommentatoren halten es für richtig, in der Übergabe der Macht von der Kuomintang an die Kommunistische Partei eine vollendete soziale Revolution zu sehen. Diese durchaus oberflächliche und völlig falsche Einschätzung der Ereignisse“ berücksichtigt überhaupt nicht die Opposition des Volkes zur stalinistischen Herrschaft, die sich gleichzeitig mit dem „roten“ militärischen Sieg entwickelt hat. Sie beachtet auch nicht, daß das stalinistische Programm selbst dem Schutz und der Aufrechterhaltung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse gilt. [29]
Zu meinen, daß eine allgemeine Verstaatlichung, die fast alle Produktions-, Austausch- und Transportmittel umfaßt, mit dem Begriff eines kapitalistischen Staates zu vereinbaren sei, ist eine revisionistische Idee, die ihre modernen Anhänger nur zum Begriff des Staatskapitalismus führt.
Pablo: Jugoslawien und der Rest der Pufferzone
Mittlerweile war „die Gruppe“ – so bezeichnete sich die Healy-Lawrence-Fraktion – fleißig bei der Arbeit in der Labour Party. Sie hatte, zusammen mit einigen Linken innerhalb der Labour Party, eine Zeitung namens Socialist Outlook gegründet. Dabei handelte es sich nicht um eine trotzkistische Zeitung, sondern um so etwas wie eine Forum. Verschiedene Linke (und auch einige nicht so sehr linke) Parlamentarier und Gewerkschafter wurden angeregt, Beiträge zu schreiben, einschließlich der zukünftigen Zierde des Vorstandes der Labour Party, Mrs. Bessie Braddock.
Diese Politik wurde durch die Hinweise auf die Perspektive der ökonomischen Krise und der Massenradikalisierung gerechtfertigt. Da es noch keinen linken Massenflügel gab, bestehe die Rolle der Zeitung darin, den Rahmen zu schaffen, der die Entwicklung eines solchen Flügels fördere. Die kürzlich radikalisierten Arbeiter würden in diesen Rahmen hineinströmen. [30]
In der Tat war Socialist Outlook aber eine zentristische Zeitung und fand als solche schnell Anklang unter den damals recht zahlreichen Linken in der Labour Party. Keine Spur der bitteren Auseinandersetzungen, die die IV. Internationale zu der Zeit beschäftigten, durfte die Seiten der Zeitung beschmutzen. Die fundamentalen politischen Fragen konnten noch warten. Die Hauptsache war, eine Bewegung aufzubauen. Das allerletzte, was der „Gruppe“ zu dieser Zeit hätte vorgeworfen werden können, war Sektierertum gewesen.
1949 wurde die „Gruppe“ durch viele der Mitglieder der ehemaligen RCP-Mehrheit gestärkt, nachdem die RCP ihre eigene Auflösung, ihren Eintritt in die Labour Party und ihre Fusion mit der Gruppe beschloß. Die Auflage und der Einfluß von Socialist Outlook wuchs, besonders bei der kurz zuvor wiedergeborenen „Labour League of Youth“ (Jungsozialisten).
Leider wollten sich die politischen Probleme der Gruppe nicht einfach zum Sterben hinlegen. Am 28. Juni 1949 verkündete die Kominform [31] den Ausschluß der Kommunistischen Partei Jugoslawiens. Tito, einstmals Vorbild eines stalinistischen Führers, wurde bald beschuldigt, ein Trotzkist und ein Agent des internationalen Imperialismus zu sein. (Die Spuren seines „Agentenwesens“ wurden bis in den spanischen Bürgerkrieg „aufgezeigt“.) Das Stalin-Regime leitete einen Wirtschaftsboykott Jugoslawiens ein, und auf einer Welle von Schauprozessen in den „Volksdemokratien“ wurde folgendes Schauspiel aufgeführt: Prominente stalinistische Führer gestanden ein, ihre trotzkistischen Ansichten hätten sie dazu gebracht, sich nacheinander für die Geheimdienste Nazi-Deutschlands und der USA anwerben zu lassen. [32]
Die Stalin-Tito Spaltung brachte die IV. Internationale in Verwirrung. Sie hatte etwa zur gleichen Zeit Jugoslawien soeben als einen kapitalistischen Staat erklärt, der durch eine bonapartistische Diktatur beherrscht werde, der gegenüber im Falle eines Krieges „eine Politik des eindeutigen revolutionären Defätismus“ durchgeführt werden müsse. Nun erschien ein Krieg als geradezu zu wahrscheinlich – ein Krieg zwischen Jugoslawien und der UdSSR, die natürlich als Arbeiterstaat gegen den Imperialismus „bedingungslos verteidigt“ werden müsse.
Eine mögliche Position war die, die die SWP eine Zeitlang vertrat, nämlich Neutralität:
Tito und Stalin wollen, daß die Arbeiter zwischen ihnen wählen ... Egal was Tito und Stalin wollen, die Arbeiter werden sicher diese Falle ablehnen, zwischen der Art von goldener Kette, die in Belgrad getragen wird, und der Art, wie Stalin sie im Kreml lieber trägt, zu wählen. [33]
Eine unmögliche Position (nach der eigenen Analyse der IV. Internationale) war die Unterstützung von Tito gegen Stalin. Am 1. Juli richtete dann das Internationale Sekretariat einen offenen Brief an die Kommunistische Partei Jugoslawiens (KPJ) in dem u..a. folgendes stand:
Sie halten in ihren Händen eine große Macht, wenn Sie nur auf dem Weg der sozialistischen Revolution bleiben ... Führt den Kampf weiter.
Nachdem bemerkt wurde, daß die IV. Internationale verschiedenerlei Kritik an der KPJ hatte (eigentlich, daß sie eine konterrevolutionäre bonapartistische Clique sei – aber natürlich wurde die Sache nicht so primitiv ausgedrückt!). schloß der Brief so:
Wir ziehen es vor, an das Versprechen zu erinnern, unter dem Euer Widerstand begonnen wurde – das Versprechen des siegreichen Widerstandes durch eine revolutionäre Arbeiterpartei gegen den Kreml-Apparat. Es lebe die jugoslawische sozialistische Revolution! [34]
Zum ersten Mal wankten die Gläubigen. Wenn die KPJ tatsächlich eine revolutionäre Arbeiterpartei war, dann war alles Unsinn, was Trotzki und die orthodoxen Trotzkisten seit 1934 über den Stalinismus geschrieben hatten. Was die jugoslawische sozialistische Revolution anbetrifft: Die IV. Internationale hatte eben nachgewiesen, daß sie vom Stalinismus zerschlagen worden sei, insbesondere von der KPJ!
Aber die Gewohnheiten der Sektensolidarität waren fest. Oppositionelle Richtungen innerhalb der IV. Internationale hatten schon jahrelang argumentiert, daß der Klassencharakter der „Pufferländer“ identisch sei mit dem der UdSSR. Einige (z.B. die RCP) hatten argumentiert daß alle beide degenerierte Arbeiterstaaten seien. Andere (z.B. die Chaulieu-Gruppe in Frankreich) hatten argumentiert, daß alle beide Formen des Staatskapitalismus darstellten. Beide Positionen waren erst ein paar Wochen vor der Absendung des Offenen Briefes an Belgrad „endgültig“ abgelehnt worden. In der Tat hatte der Zweite Weltkongreß erklärt:
Die Parallelität dieser beiden Positionen springt in die Augen. Es gibt in der revolutionären Bewegung keinen Platz für sie. [35]
Eine einheitliche Front gegen die „Revisionisten“ mußte aufrechterhalten werden. Und deshalb nahm die SWP ihre Auffassung bei Gelegenheit zurück. Im September 1949 erklärte sie:
Revolutionäre können nicht neutral bleiben im Kampf zwischen Tito und Stalin und dann warten, bis die oppositionelle Bewegung genügend ideologische Klarheit in bezug auf alle wichtigen Fragen hervorgebracht hat. Wir stehen auf der Seite Jugoslawiens gegen den Kreml. [36]
Aber die Sache konnte so doch nicht stehenbleiben! Die Widersprüche in der offiziellen Position waren nun sogar einigen der Orthodoxen offensichtlich. Michael Pablo äußerte sich als erster dazu. Jugoslawien, so beschloß er, sei ein Arbeiterstaat, ein deformierter zwar, aber trotzdem ein Arbeiterstaat. Und wenn Jugoslawien ein Arbeiterstaat sei, dann müßten ebenfalls Bulgarien, Polen, Ost-Deutschland, China – in der Tat wohl alle stalinistischen Regime ebenfalls Arbeiterstaaten sein. Das heißt, 40 Prozent der Weltbevölkerung lebten jetzt in Arbeiterstaaten und, mit Ausnahme der UdSSR, ist keiner dieser Staaten durch Arbeiterrevolutionen entstanden. Nicht nur Trotzki, sondern auch Marx und Lenin hätten also insofern Unrecht gehabt, als sie meinten, nur die Arbeiterklasse könne den Kapitalismus stürzen!
Eine falsche politische Theorie trägt ihre eigene Strafe in sich. Die Macht und Hartnäckigkeit des Parteiapparats vergrößert nur das Ausmaß der Katastrophe.
Trotzki: Die Tragödie des deutschen Proletariats (1933) in: Schriften über Deutschland, Frankfurt 1971
Pablos Thesen wurden mit Unbehagen von vielen seiner früheren Anhänger aufgenommen. In den nationalen Sektionen und in dem ISVI selbst begann sich eine Differenzierung zwischen einer grundsätzlichen pro-stalinistischen Richtung und deren Kritikern herauszubilden. Unter den letzteren war Gerry Healy, und es entwickelt sich eine Spannung zwischen ihm und Lawrence, der Pablo unterstützte. Dies war den uneingeweihten unter den Lesern von Socialist Outlook nicht sichtbar. Lawrence und seine Anhänger kontrollierten die Redaktion, und unter deren Einfluß begann die Zeitung eine mehr und mehr pro-stalinistische Linie zu propagieren.
Es gab keine sofortige Spaltung. Die Gegner von Pablo waren unter sich uneinig. Einige von ihnen wollten die Positionen beibehalten, nach der sämtliche stalinistische Regime außerhalb der UdSSR kapitalistisch seien. [37] Einige hielten allein Jugoslawien für einen Arbeiterstaat. Noch einige andere konnten eine „bürokratische Revolution“ in Osteuropa schlucken, machten aber Schluß bei China. [38]
Alle gemeinsam waren in der Logik ihrer Position zur UdSSR verfangen. Solange behauptet wurde, die UdSSR sei ein degenerierter Arbeiterstaat, mußte Pablo schließlich siegen. Und er hat auch in der Tat gesiegt. Der Dritte Weltkongreß beschloß, daß die osteuropäischen Staaten schließlich doch „deformierte Arbeiterstaaten“ seien. [39]
Durch diese Entscheidung wurde das Problem aber doch nicht gelöst. Ganz im Gegenteil hat sie einen heftigen internen Konflikt in der IV. Internationale hervorgerufen. Denn Pablo begann die Schlußfolgerung deutlich zu machen, die sich notwendig aus seiner Position ergibt:
In Ländern, wo die Kommunistischen Parteien die Mehrheit der Arbeiterklasse darstellen, können sie unter außergewöhnlichen Bedingungen (fortgeschrittene Auflösung der besitzenden Klassen) und unter dem Druck sehr mächtiger Klassenaufstände dazu gebracht werden, eine revolutionäre Orientierung hervorzubringen, die sich den Anordnungen des Kreml entgegensetzt. [40]
Auf gut deutsch heißt das: Die stalinistischen Massenparteien sind revolutionäre Parteien; denn die Einschränkungen sind bedeutungslos. Keine revolutionäre Partei ergreift jemals die Macht unter Umständen, die nicht „außergewöhnlich“ sind, und ohne „sehr mächtige Massenaufstände“.
Daraus folgte, daß der Eintritt in diese Massenparteien die richtige Politik für Revolutionäre sei. Dies sei ein dringender Schritt, weil der Dritte Weltkrieg unmittelbar bevorstehe.
Diese Organisationen können in der relativ kurzen Zeit, die wir bis zum entscheidenden Konflikt noch haben, nicht zerschlagen und durch andere ersetzt werden. Um so mehr, da diese Organisationen gezwungen sein werden, ob sie es wollen oder nicht, eine Linksschwenkung ihrer Führung, oder zumindest eines Teils ihrer Führung auszulösen. [41]
Das Rad hatte sich voll gedreht. Zwanzig Jahre früher hatte Trotzki erklärt, daß der Sieg Hitlers bewiesen habe, daß die Kommunistische Internationale eine Leiche sei, daß es also notwendig sei, für eine neue revolutionäre Internationale zu arbeiten. Nun verkündete der Sekretär dieser neuen Internationale praktisch, daß das Ganze ein Fehler gewesen sei! Zu diesem Zeitpunkt zog sich Healy, zusammen mit der Mehrheit der SWP zurück und brach politisch mit der Mehrheit der IV. Internationale.
Innerhalb der Gruppe entwickelte sich ein wütender Kampf. Die Linie des Socialist Outlook, die von der Lawrence-Fraktion kontrolliert wurde, wurde ununterscheidbar von der Linie des Daily Worker [Tageszeitung der Kommunistischen Partei Großbritanniens – d. Übers.]. Die beiden Fraktionen spalteten sich formal im November 1953. Kurz danach gewann die Healy-Gruppe die Kontrolle über die Zeitung wieder, sechs Monate später wurde sie von der Labour Party verboten. Lawrence und seine Freunde traten in die Kommunistische Partei ein.
Das sehr beträchtliche Umfeld, das sich um die Zeitung gebildet hatte, brach auseinander. Natürlich hat sich der oft prophezeite linke Massenflügel nie entwickelt – sei es auch nur darum, weil die ökonomische Perspektive, von der die Entwicklung eines solchen Flügels abhing, sich als falsch erwiesen hatte. Aber eine ziemlich große Anzahl von Labour Party-Mitgliedern und Gewerkschaftern hatte sich doch mit dem Outlook identifiziert. Die meisten unter ihnen ahnten nichts von dem Konflikt und gingen während des Fraktionskampfes, der sich auf einmal vor ihren Augen entfachte, verloren. Nichts war unternommen worden, um sie politisch auf den Konflikt vorzubereiten, der sich lange Zeit hindurch auf einen geschlossenen inneren Kreis beschränkte. Als er ausbrach, waren sie entweder verwirrt oder verärgert und stimmten mit ihren Führern ab. Die Gruppe wurde zahlenmäßig auf ungefähr die gleiche Stärke reduziert, die sie zur Zeit ihres Eintritts sechs Jahre zuvor gehabt hatte.
Und was für eine marxistische Bewegung? Nicht eine Gruppe verbitterter Dogmatiker, die weder politische Wurzeln oder Perspektiven hat, noch die Fähigkeit besitzt, aus ihren Fehlern zu lernen.
Leitartikel der Labour Review, August-September 1958
Die Mehrheit der Healy-Gruppe hatte mit dem Pabloismus gebrochen, aber sie hatte es in der denkbar abgeschwächtesten Weise getan. Sie lehnten Pablos Schlußfolgerungen ab, akzeptierten aber seine Prämissen. Auch unterzogen sie ihre ökonomischen Perspektiven keiner ernsthaften Nachprüfung. Sie hielten an der Katastrophenprognose fest – nur das Datum der Katastrophe mußte jedes Jahr verschoben werden. Das Problem der Bestimmung des Charakters und daher auch der Grenzen des anhaltenden kapitalistischen Wiederaufschwungs existierte für sie nicht.
Ihre jüngsten Erfahrungen ließen sie immer mehr die wesentliche Rolle der Arbeiterklasse bei der Veränderung der Gesellschaft betonen; aber dies war der einzige positive Aspekt ihrer Entwicklung. Sicherlich war es der allerwichtigste. Dadurch blieben sie in der zentralen Tradition des Marxismus zu einem Zeitpunkt, da ihre früheren Verbündeten in die Richtung eines verwässerten Stalinismus stolperten. Aber ansonsten gelang es ihnen nicht, sich politisch irgendwie weiterzuentwickeln. Sie blieben „orthodox“. Diese Tatsache sollte letzten Endes den Charakter der SLL bestimmen. Zunächst aber war dies noch nicht offensichtlich.
Zweieinhalb Jahre lang nach dem Ende des Outlook blieb die Gruppe klein und relativ isoliert. Sie hielt ihre Reihen geschlossen und wartete auf bessere Zeiten. Diese kamen bald. Die ungarische Revolution von 1956 brachte die erste wichtige Spaltung der britischen KP hervor. Mehrere tausend Parteimitglieder verließen die Organisation. Viele gingen nach rechts, aber die besten unter ihnen suchten nach einer revolutionären Alternative, die imstande wäre, sowohl die offensichtliche Degenerierung der Sowjetunion zu erklären, als auch einen Weg nach vorne in Großbritannien aufzuzeigen.
Die Gruppe konnte beides tun. Die Verratene Revolution Trotzkis war den gerade desillusionierten Stalinisten das Manna, und die zuversichtliche Prophezeiung einer Krise um die nächste Ecke verstärkte ihre Entschlossenheit. Mehrere hundert von ihnen, größtenteils begabte und treue Arbeiter und Intellektuelle, kamen in die Gruppe.
Dies war der stärkste Zuwachs, den die britischen Trotzkisten jemals erlebt hatten. Er ermöglichte die Herausgabe des Newsletter ab Mai 1957. Sich als „unabhängige sozialistische Wochenzeitung“ darstellend, war sie in ihrer Anfangszeit eine erstklassige, nichtsektiererische revolutionäre Zeitung, deren Blick ganz auf die Industriearbeiter gerichtet war. Die Reaktion der Industriearbeiter auf die Zeitung war so positiv, daß, als der Newsletter im November 1958 eine Konferenz von Industriearbeitern veranstaltete, mehr als 600 Gewerkschaftsaktivisten an ihr teilnahmen. Viele unter ihnen waren in ihren verschiedenen Industriezweigen hochgeschätzt und einflußreich. Die Behauptung, die Konferenz sei „eine Versammlung ausschließlich der Gewerkschaftsbasis, von keiner Plattform dominiert, durch keine Bürokratie geführt, durch keine Funktionäre gesteuert“ [42] entsprach ziemlich weitgehend der Realität. Auf jeden Fall war die Ebene der Diskussion qualitativ hoch, und es wurden gute praktische Vorschläge ausgearbeitet. [43] Ein Ergebnis der Konferenz war die Veröffentlichung einer Reihe ausgezeichneter Broschüren, in denen die anstehenden Probleme für die Gewerkschaftsbewegung verschiedener Industriezweige diskutiert wurden.
Zur gleichen Zeit veröffentlichte das theoretische Organ der Gruppe, Labour Review, wertvolle aktuelle und geschichtliche Artikel. In einer ihrer frühen Nummern erklärten ihre Chefredakteure (John Daniels und Bob Shaw):
Wir wollen doch betonen, daß Labour Review kein spezifisches Organ der Trotzkisten ist. Wir möchten sie zur wichtigsten Plattform für eine Diskussion über alle zentralen Aspekte der revolutionären Theorie machen ... Unsere Seiten stehen allen zur Vefügung, die sich dazu äußern wollen, wie die marxistische Wissenschaft zu bereichern wäre ... Was die marxistische Bewegung in Großbritannien vor allem braucht, ist eine grundsätzliche, vielseitige, unzensierte Diskussion der prinzipiellen Probleme der britischen und der internationalen Arbeiterbewegung, eine Diskussion, die uns alle in der Strategie und der Taktik der sozialistischen Revolution weiterbilden kann. [44]
Es kann mit Recht behauptet werden, daß die frühen Nummern der Labour Review einen echten Beitrag zu einer solchen Diskussion geleistet haben.
Als die „Socialist Labour League“ zu Pfingsten 1959 gegründet wurde, fing sie mit einem Kader von Aktivisten, die zahlenmäßig und gemessen an ihrer Begabung und ihrer Erfahrung allen früheren revolutionären Organisationen seit der Gründung der CPGB (Kommunistische Partei Großbritanniens) 1920/21 überlegen war. Doch erwies sich das Jahr 1959 als der Höhepunkt der Organisation. Obwohl sie bald maßgebenden Einfluß auf die kürzlich gegründeten „Young Socialists“ (Jungsozialisten) der Labour Party [45] gewinnen konnte, begann die Industriearbeiterbasis der Organisation schon unmittelbar nach ihrer Gründung zu schrumpfen. Innerhalb von ein paar Jahren war die große Mehrheit jener Gewerkschaftsaktivisten, die aus der KP gekommen waren, wieder verlorengegangen. Die SLL wurde zu einem sektiererischen Zerrbild einer revolutionären Organisation. Es waren die ungelösten politischen Widersprüche trotzkistischer Orthodoxie, die sich als tödliche Hemmnis einer gesunden Entwicklung erwiesen.
In was für eine Situation wird die Socialist Labour League hineingeboren, um die Tradition von vier internationalen Arbeiterassoziationen zu erben und weiterzuführen? Wenn wir ein Wort wählen müßten, um die Hauptmerkmale dieser Periode zusammenzufassen, dann wäre dieses Wort „Krise“.
Leitartikel der Labour Review, April-Mai 1959
In der Periode 1957-59 widmete sich die Gruppe hauptsächlich der Aufgabe der Sammlung und Organisierung der besten ex-stalinistischen Kader. Trotzkis Schriften lieferten alle dazu erforderlichen theoretischen Waffen. Es gab keine wunden Stellen vergangener Sündenfälle, die man hätte verheimlichen oder wegerklären müssen. Solange die Debatte auf dieser Ebene blieb, konnte die Gruppe von einer umfassenden und offenen Diskussion nur profitieren. Aber in dem Moment, wo die Gruppe diese Aufgabe gelöst hatte und die SLL schon gegründet war, gab es ein neues Problem. Es war notwendig, die Welt der 60er Jahre einer marxistischen Analyse zu unterziehen. Eine solche Analyse setzte eine ernsthafte Untersuchung früherer Fehler voraus. Dies konnten die Führer der SLL nicht leisten.
Ihr Konservatismus zeigte sich zuerst und am verheerendsten im Bereich der ökonomischen Perspektiven. Schon immer seit dem Krieg hatten sie verkündet, eine Rezession stehe unmittelbar bevor. Diese Rezession war jedoch nie gekommen. Das Problem war im großen und ganzen einfach. Das ökonomische Modell von Marx ist ein geschlossenes System. Vorausgesetzt, alle Ausgangsbedingungen gehen wieder in das System ein, dann sind häufig wiederkehrende, schwere ökonomische Krisen unvermeidbar. Aber, wie Kidron aufgezeigt hat:
Eine undichte Stelle könnte den Zwang zum Wachstum von seiner wichtigsten Konsequenz isolieren ... Wenn „kapitalintensive“ Güter abgezapft werden könnten, dann würde sich die Erhöhung [der organischen Zusammensetzung des Kapitals – D.H.] ... verlangsamen ... könnte sogar gänzlich aufhören oder sich umkehren. In einem solchen Fall gäbe es keinen Grund, immer schwerere Rezessionen zu erwarten und so weiter. [46]
Die permanente Rüstungswirtschaft hatte eine solche undichte Stelle mit sich gebracht.
Die Folgen dieser Tatsache, die Widersprüche des Neokapitalismus, seine Entwicklungsperspektiven und seine Grenzen – dies sind die grundsätzlichen Probleme, mit denen Revolutionäre im Westen sich heutzutage auseinandersetzen müssen. Für orthodoxe Trotzkisten besteht die Schwierigkeit darin, diese Probleme überhaupt als solche anzuerkennen. Denn, wenn man dies täte, dann müßte Trotzkis ökonomischer Katastrophismus abgelehnt werden. Gleichzeitig müßte auch einer der beiden Pfeiler abgelehnt werden, auf denen die IV. Internationale gegründet wurde.
Die winzigen Grüppchen der IV. Internationale hatten nämlich damit gerechnet, daß sie in der Flutwelle einer ökonomischen Katastrophe nach vorne sausen würden. Stattdessen fanden sie sich mit der Ebbe gestrandet, die ein zwanzig Jahre andauernder Wirtschaftsaufschwung produziert hatte. Daher die Belanglosigkeit des ganzen anmaßenden Apparats von „Weltführung“, „Weltkongressen“, „Internationalen Exekutivplenen“ und auch des ganzen übrigen Zubehörs, das man der Komintern entliehen hatte.
Die Komintern der zwanziger Jahre hatte eine tatsächliche Bedeutung gehabt. Hunderttausende von Aktivisten folgten ihren Anweisungen, Millionen von Menschen wurden durch sie beeinflußt. Ihre Entscheidungen, ob falsche oder richtige, wirkten sich auf den Verlauf der Geschichte – und deshalb fand eine Rückkoppelung zwischen politischen Entscheidungen und der Organisation statt. Vor der stalinistischen Degenerierung war die Komintern ständig mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihre Fehler zu überprüfen und zu korrigieren, denn sie wurden sehr schnell deutlich im realen Verlauf des Klassenkampfes. Wenn Trotzkis ökonomische Perspektive gestimmt hätte, dann hätte sich die IV. Internationale in einer ähnlichen Situation befinden können. Da sie aber falsch war, gab es kein solches Korrektiv durch die Basis. Daher konnte eine Politik der Täuschung und des Bluffs wie die der SLL gedeihen.
Die Führung der SLL hatte mit der IV. Internationale gebrochen, ohne die eigene Vergangenheit kritisch zu überprüfen. Deshalb hat sie noch eine zusätzliche „Internationale“ gebildet – das „Internationale Komitee der IV. Internationale“, das noch lächerlicher war als die IV. Internationale selbst.
Die Auswirkungen der unbewältigten Vergangenheit auf die Arbeit der SLL in Großbritannien waren noch verheerender. Diskussionen, die für die Führung gefährlich sind, kann man durch übertriebene Aktivitäten unterbinden. Diese Überaktivität läßt sich ihrerseits durch Verweise auf die zeitliche Nähe des ökonomischen Zusammenbruchs rechtfertigen. Die Mitgliedschaft, die zu einem wahnsinnigen Tempo angetrieben wird, weist eine hohe Verlustrate auf. Ein großer Teil der Mitgliedschaft ist immer erst seit kurzem in der Organisation und kann sich daher auch nicht an die Nicht-Erfüllung vergangener Prophezeiungen erinnern. Es entsteht ein Teufelskreis, der die Korrektur der politischen Linie zunehmend erschwert. „Der Aufbau der Führung“, die natürlich gleichgesetzt wird mit der eigenen Organisation, wird zum Ersatz für ernsthafte politische und ökonomische Aktivität. Ernsthafte Revolutionäre werden abgestoßen, und die „revolutionäre Jugend“ bildet einen immer größeren Teil der Aktivisten. Die Führung der Organisation, die allein überhaupt über ein bestimmtes Maß an Kontinuität verfügt, wird unanfechtbar und sieht sich immer weniger gezwungen, ihre Politik und ihre Praxis zu überprüfen.
Dies ist auch eine Quelle des Sektierertums. Da die Kader politisch grundsätzlich unerfahren sind – dies als Folge des Fehlens jeder ernsthaften internen Diskussion –, müssen sie vor der „Ansteckung“ durch Kontakt mit Aktivisten anderer Organisationen abgeschirmt werden. Daher die Enthaltsamkeit der SLL gegenüber dem VSC (Vietnam Solidarity Committee), und daher auch die Abschirmung der eigenen Gewerkschaftskader vor Kontakten mit anderen revolutionären Tendenzen in der „All Trade Union Alliance“ [Gesamtgewerkschaftliches Bündnis].
Es gibt noch eine zusätzliche Quelle des Sektierertums, die die erste noch verstärkt. Die Führer der SLL haben mit dem Pabloismus gebrochen, jedoch haben sie die grundsätzliche pabloistische Position in Bezug auf den Klassencharakter der stalinistischen Staaten beibehalten. Sicherlich haben sie politische Konsequenzen gezogen, die denen der Mehrheit der IV. Internationale völlig entgegengesetzt sind, und dadurch haben sie die durch die falsche Theorie bewirkten Schäden auf ein Minimum reduziert. Aber dafür mußten sie den Preis eines anderen unhaltbaren politischen Kompromisses bezahlen. Die kubanische Revolution und die SLL kamen ungefähr zur gleichen Zeit auf die Welt. So wie es sich gehört, hat Castro, der Tito seiner Zeit, die Bourgeoisie enteignet und hat – was erreicht? Keinen deformierten Arbeiterstaat, wie der Pabloismus analysierte! Die Führung der SLL hat richtigerweise den grundsätzüchen Widerspruch zwischen dieser Analyse und dem revolutionären Marxismus gesehen. Wie einer ihrer Theoretiker bemerkte:
Wenn aber Kuba gemäß den in den SWP-Beschlüssen festgelegte Kriterien als Arbeiterstaat akzeptiert wird, dann ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die für diese Art von „Arbeiterstaat“ erforderlichen Merkmale auch für den Fall Algeriens festgestellt werden. Und wenn dies für Algerien zutrifft, dann warum nicht auch noch weitere Teile der Welt in Betracht ziehen? ... Da ist Ägypten. Das ist Burma. [47]
Völlig richtig!! Aber das ist gänzlich unvereinbar mit der Position der SLL in bezug auf die UdSSR, Osteuropa und China! Noch ein Grund, warum die jungen Kader der SLL abgeschirmt werden müssen vom Kontakt mit Leuten, die sie vielleicht auf gefährliche Gedanken bringen könnten.
Das Ergebnis ist die Entwicklung einer eigenartigen Psychologie bei den SLL-Kadern. Eine Psychologie, die der des Stalinismus der „dritten Periode“ ähnlich ist. Ein fanatischer Partei-Patriotismus, ein wilder Haß auf andere Gruppierungen, die per Definition „verraten“, also eine wirksame Isolierung gegen Kritik, da Kritik immer von „Verrätern“ kommt. Kurz gesagt, alle Merkmale eines „Rechtgläubigen“. Für die Führung der SLL hat diese Psychologie offensichtliche Vorteile. Ihr einziger Nachteil ist, daß sie ein Verständnis der Realität unmöglich macht, sie macht es auch unmöglich, einen ernsthaften und dauernden Einfluß auf die Arbeiterklasse zu gewinnen.
Das tragische Versäumnis der SLL, die Erwartungen zu erfüllen, die man anfänglich in sie gesteckt hatte, wurzelt in den Prämissen, auf denen sie gegründet wurde. Trotzki bezeichnete das zwanzigste Jahrhundert als ein Jahrhundert der Kriege und der Revolution. Das Versäumnis seiner „orthodoxen“ Anhänger, diese richtige historische Perspektive von den Fehlern seiner kurzfristigen Analyse zu befreien, liegt ihrem politischen Bankrott zugrunde. Trotzkis immenser Beitrag zur revolutionären Taktik, seine kompromißlose Feindseligkeit gegenüber dem Stalinismus, gegenüber dem Reformismus, gegenüber jeder Art von Totalitarismus geben ihm eine Bedeutung, die von Fehlern dieser Art nicht gemindert werden kann. In diesem Sinne muß heute ein marxistischer Revolutionär ein Trotzkist sein, genau so wie er auch ein Leninist sein muß.
Die Verknöcherung des lebendigen Denkens eines großen Revolutionärs in ein Dogma, das Versäumnis, die von ihm verwendeten Methoden auf neue Situationen und neue Probleme anzuwenden, kurz gesagt, die Errichtung einer Orthodoxie, – dies ist ebenso sehr eine Beleidigung von Trotzkis Andenken, wie es mit dem Geist seines Lebenswerkes unvereinbar ist.
Dieser Dogmatismus paralysiert die politische Entwicklung der SLL. Trotz des erheblichen Raumes, den seine Veröffentlichungen dem „Pabloismus“ widmen – in Wirklichkeit der politischen Degeneration der Überreste der IV. Internationale –, wird weder die Mitgliedschaft der SLL noch die revolutionäre Linke allgemein durch diese Diskussionen gebildet. Der Grund dafür ist klar. In einer Rede auf der fünften Jahreskonferenz der SLL im Jahre 1963 sagte einer ihrer führenden Köpfe, Cliff Slaughter:
Um diese Religion des Manismus (d.h. der Pabloismus) völlig zu enthüllen, haben wir eine gründliche Diskussion aller umstrittenen Fragen seit 1953 befürwortet, damit eine theoretische Klärung erreicht werden kann. [48]
Wie dieser Artikel versucht hat zu zeigen, waren die Grundlagen der Degenerierung, die die SLL ja bekämpfen will, schon lange vor 1953 entstanden. Und solange die SLL dies nicht verstehen will, wird ihr es nicht möglich sein, sich von der fanatischen Sektiererei zu befreien, die ihre Bemühungen, eine revolutionäre Partei aufzubauen, zunichte macht./P>
1. Vorgängerorganisation der „Workers Revolutionary Party“ (WRP), die inzwischen in mehrere Organisationen gespalten ist.
2. Die zwei polnischen Delegierten waren gegen den Beschluß. Die Frage der Anzahl der Anwesenden ist umstritten. Eine andere Quelle (Max Shachtman) gibt die Zahl mit 30 an.
3. Hervorhebung der Textstellen durch „Kursivdruck“ nicht im Originaltext, sondern vom Verfasser dieses Artikels.
4. Trotzki: The Death Agony of Capitalism and the Tasks of the Fourth International (1938). Deutsch: Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der 4. Internationale (Übergangsprogramm), Essen, 1975.
5. Trotzki: The USSR in War. Deutsch: Die UdSSR im Krieg (1939) in: Trotzki Schriften: Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Hamburg 1988, S.1286ff.
6. ebenda.
7. Trotzki: The Death Agony ...
8. ebenda.
9. ebenda.
10. Trotzki: The Workers’ State, Thermidor and Bonapartism. Deutsch: Arbeiterstaat, Thermidor und Bonapartismus, in: Trotzki Schriften: Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Hamburg 1988, S.581ff.
11. ebenda.
12. Trotzki: The Death Agony ...
13. ebenda.
14. Die UdSSR im Krieg. S.1286.
15. Selbst in den späten 30er Jahren gab es Anzeichen dafür, daß das System noch nicht erschöpft war. Die Industrieproduktion Japans verdoppelte sich beinahe zwischen 1927 und 1936. Vgl. Mike Kidron: Rüstung und wirtschaftliches Wachstum, ein Essay über den westlichen Kapitalismus nach 1945, Frankfurt 1971.
16. Diese Darstellung ist notwendigerweise eine vereinfachte. Deutschland stand unter der militärischen Herrschaft der vier Mächte von 1945 bis 1949, als der Osten und der Westen jeweils Regime nach eigenem Ebenbild schufen. In Polen und in Großbritannien hatten die Stalinisten keine Massenbasis, doch war die Situation im allgemeinen so, wie sie hier im Artikel beschrieben ist.
17. Die heranreifende Situation in Europa und die Aufgaben der Vierten Internationale, Beschluß der internationalen Vorkonferenz der IV. Internationale, gedruckt in Workers International News, Juli-Aug 1945 [Zeitschrift der RCP in Großbritannien].
18. ebenda.
19. The New Imperialist Peace and the Building of the Parties of the Fourth International, Resolution der internationalen Vorkonferenz der IV. Int., gedruckt in Workers International News, Nov.-Dez, 1946.
20. Workers International News, Juni 1948.
21. The World Situation and the Tasks of the Fourth International, Fourth International, Juni 1948.
22. Siehe Ygael Gluckstein (Tony Cliff): Stalin’s Satellites in Europe, Teil 2, Kapitel 1, London 1952.
23. ebenda.
24. ebenda, Teil 1, Kapitel 1 und 2.
25. Ein Zusatzantrag der RCP, der behauptete, daß die stalinistische Bürokratie durch den Krieg gestärkt worden sei, wurde durch den Kongreß abgelehnt.
26. The USSR and Stalinism, Thesen des Zweiten Internationalen Weltkongresses der IV. Int., gedruckt in Fourth International, Juni 1948.
27. ebenda.
28. ebenda.
29. China: An Aborted Revolution, in Fourth International, Jan.-Feb. 1950.
30. Diese Taktik ähnelte der der „Farmer-Labour Party Tactic“ der amerikanischen KP der späten 20er Jahre. Die Linke in der CPUSA (die Foster-Cannon-Gruppe) und die russische Linke Opposition hatten sie als opportunistisches Abenteuer kritisiert.
31. Die Kommunistische Internationale löste sich 1943 auf. Nach dem Krieg wurde ein „Kommunistisches Informationsbüro“ eingerichtet. Ihm gehörten die osteuropäischen Kommunistischen Parteien sowie die Kommunistischen Parteien Italiens und Frankreichs an.
32. Klugman: Von Trotzki bis Tito. Es lohnt sich, diese Zusammenstellung von Lügen und Verleumdungen zu lesen, weil der Verfasser gegenwärtig als einer der führenden „Theoretiker“ und Historiker der KP gilt.
33. The Militant, 19.7.48. Zitiert in: New International, Juni 1948, New York, N.Y., USA [Zeitschrift von Shachtmans „Workers Party“.]
34. zitiert in New International, Sept. 1949.
35. The USSR and Stalinism, in Fourth International, Juni 1948.
36. The Tito-Stalin Conflict, Stellungnahme des Nationalkomitees der SWP in: Fourth International, Okt. 1949.
37. Mandel und Frank widersetzten sich längere Zeit der Ansicht, nach der die „Pufferstaaten“ deformierte Arbeiterstaaten seien.
38. Wohlforth: The Struggle for Marxism in the United States.
39. The Class Nature of Eastern Europe, Resolution des Dritten Weltkongresses der IV. Int., in Fourth International, Nov.-Dez. 1951.
40. Pablo: The Rise and Decline of Stalinism – zitiert nach A Recall to Order, herausgegeben von IS 4. Int., 1959
41. Resolution des 10. Plenums des Internationalen Exekutivkomitees der IV Int., 1952. Zitiert in a.a.O.
42. Labour Review, März-April 1957.
43. Angaben Beteiligter.
44. Labour Review, März-April 1957
45. Die „Labour League of Youth“ (Arbeiterjugendliga) wurde 1955 zum zweiten Mal aufgelöst. Die „Young Socialists“ (Jungsozialisten) wurden 1960 gegründet.
46. Kidron: Maginot Marxism: Mandel’s Economics, in International Socialism 36, London.
47. Kemp: Revisionism – The Discussion, in: Labour Review, Sommer 1963.
48. Slaughter: Revisionism and the Fourth International, in Labour Review, Sommer 1963.
Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003