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Der Staat und der SozialismusNachwort zu einem Artikel von For Ever Zur Verteidigung der Anarchie(28. Juni-5. Juli 1919) |
Aus: Antonio Gramsci: Zur Politik, Geschichte und Kultur, Verlag Phillipp Reclam jun., Leipzig, 1980, S.69ff.
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Wir veröffentlichen diesen Artikel von For Ever [1], obwohl er ein Sammelsurium von sonderbaren Ungereimtheiten und schönen Phrasen darstellt. Für For Ever ist der Weimarer Staat ein marxistischer Staat; wir von Ordine Nuovo vergöttern den Staat, wir wollen den Staat ab aeterno (For Ever wollte sicher sagen: in aeternum [2], der sozialistische Staat ist dasselbe wie der Staatssozialismus; es gab einen christlichen und einen plebejischen Staat von Gaius Gracchus; der Sowjet von Saratow könnte existieren, ohne seine Produktion und seine Aktivität auf dem Gebiet der revolutionären Verteidigung mit dem allgemeinen System der russischen Sowjets zu koordinieren, usw. So viele Behauptungen, soviel Unsinn werden als eine Verteidigung der Anarchie präsentiert.
Dennoch veröffentlichen wir den Artikel von For Ever. For Ever ist nicht nur ein Individuum, er ist ein sozialer Typ. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, darf er nicht außer acht gelassen werden. Er muß erkannt, studiert, diskutiert und überwunden werden, und zwar auf loyale und freundschaftliche Weise (die Freundschaft darf nicht durch die Wahrheit und durch alles Bittere, was die Wahrheit mit sich bringt, zerstört werden). For Ever ist ein Pseudorevolutionär. Wer seine Aktion rein auf schwülstige Phrasen, auf eine wortreiche Inbrunst, auf romantische Begeisterung gründet, ist nur ein Demagoge und kein Revolutionär. Für die Revolution sind Menschen mit nüchternem Geist notwendig, Menschen, die alles tun, damit das Brot nicht in den Bäckereien fehlt, Menschen, die die Züge fahren lassen, die dafür sorgen, daß die Betriebe Rohstoffe haben und daß Industrieprodukte gegen Landwirtschaftsprodukte getauscht werden können, die Integrität und Freiheit der Person vor den Angriffen der Verbrecher garantieren, die den Komplex der sozialen Dienstleistungen funktionieren lassen und das Volk nicht zur Verzweiflung und zu einem wahnsinnigen Gemetzel untereinander treiben.
Die Begeisterung in Worten und in Zügellosigkeit der Phrasen bringen einen zum Lachen (oder zum Weinen), wenn es darum geht, daß auch nur ein einziges dieser Probleme in einem Dorf von hundert Einwohnern gelöst werden soll. Aber obwohl For Ever ein Typ ist, so repräsentiert er doch nicht alle Anarchisten. In der Redaktion von Ordine Nuovo haben wir einen anarchistischen Kommunisten: Carlo Petri. [3] Die Diskussion mit Petri bewegt sich auf einem höheren Niveau. Die gemeinsame Arbeit mit den anarchistischen Kommunisten wie Petri ist notwendig und unerläßlich, denn sie sind eine Kraft der Revolution. Nachdem wir die Artikel gelesen hatten, den von Petri in der letzten Nummer veröffentlichten [4] und den von For Ever, den wir in dieser Nummer veröffentlichen – oder, um die dialektischen Begriffe der anarchistischen Idee zu gebrauchen: das Sein und das Nichtsein –, haben wir die folgenden Bemerkungen niedergeschrieben. Natürlich steht es den Genossen Empedocle und Caesar [5], auf die sich Petri direkt beruft, frei, ihrerseits zu antworten.
Der Kommunismus verwirklicht sich in der proletarischen Internationale. Kommunismus wird es nur geben, wenn und sofern er international sein wird. In diesem Sinne ist die sozialistische und proletarische Bewegung gegen den Staat gerichtet, weil sie gegen die kapitalistischen Nationalstaaten gerichtet ist, weil sie gegen die Nationalwirtschaften gerichtet ist, die ihren Ursprung und ihre Form aus dem Nationalstaat ableiten. Aber wenn in der Kommunistischen Internationale die Nationalstaaten aufgehoben werden, so wird doch nicht der Staat als konkrete „Form“ der menschlichen Gesellschaft aufgehoben. Die Gesellschaft als solche ist eine reine Abstraktion. In der Geschichte, in der lebendigen und körperlichen Realität der menschlichen, in der Entwicklung befindlichen Zivilisation ist die Gesellschaft stets ein System und ein Gleichgewicht von Staaten, ein System und ein Gleichgewicht von konkreten Institutionen, in denen sich die Gesellschaft ihrer Existenz und ihrer Entwicklung bewußt wird und durch die allein sie existiert und sich entwickelt.
Jede Errungenschaft der Zivilisation wird permanent, ist reale Geschichte und keine oberflächliche und vergängliche Episode, soweit sie in einer Institution verkörpert ist und eine Form im Staat findet. Die sozialistische Idee ist ein Mythos geblieben, eine kaum wahrnehmbare Chimäre, eine reine Willkür der individuelle Phantasie, solange sie sich nicht in der sozialistischen und proletarischen Bewegung verkörperte, in den Einrichtungen zur Verteidigung und zur Gegenwehr des organisierten Proletariats. In ihnen und für sie hat sie historische Form angenommen und Fortschritte gemacht. Aus ihnen ist der sozialistische Nationalstaat entstanden, der so geordnet und organisiert ist, daß er in der Lage ist, sich mit anderen sozialistischen Staaten aufs engste zu verbinden.
Ja, er ist in solchem Maße abhängig, daß er nur leben und sich entwickeln kann, wenn er sich den anderen sozialistischen Staaten anschließt, um die Kommunistische Internationale zu schaffen, in der jeder Staat, jede Institution, jedes Individuum sein erfülltes Leben und volle Freiheit finden wird. In diesem Sinne ist der Kommunismus nicht gegen den „Staat“ gerichtet, im Gegenteil, er widersetzt sich erbittert den Feinden des Staates, den Anarchisten und den Anarchosyndikalisten, indem er ihre Propaganda als utopisch und gefährlich für die proletarische Revolution entlarvt.
Man hat ein starres Schema konstruiert, wonach der Sozialismus ein „Übergang“ zur Anarchie sei. Das ist ein dummes Vorurteil, eine willkürliche Hypothek auf die Zukunft. In der Dialektik der Ideen setzt die Anarchie den Liberalismus fort, nicht den Sozialismus. In der Dialektik der Geschichte wird die Anarchie zusammen mit dem Liberalismus aus der sozialen Wirklichkeit ausgeschlossen. Je mehr die Produktion der materiellen Güter industrialisiert wird und der Konzentration des Kapitals eine Konzentration der werktätigen Massen entspricht, um so weniger Anhänger findet die anarchistische Idee. Die anarchistische Bewegung ist dort verbreitet, wo das Handwerk und der feudale Grundbesitz noch vorherrschen; in den Industriestädten und auf dem Lande mit einer mechanisierten Landwirtschaft sind die Anarchisten als politische Bewegung im Begriff auszusterben und nur noch als ideelles Ferment zu überleben. In diesem Sinne wird die anarchistische Idee noch für eine Weile ihre Aufgabe haben. Sie wird die liberale Tradition fortsetzen, da diese menschliche Errungenschaften durchgesetzt und geschaffen hat, die mit dem Kapitalismus nicht sterben dürfen.
Heute, in dem aus dem Krieg hervorgegangenen gesellschaftlichen Wirrwarr, scheint es, daß die anarchistische Idee die Anzahl ihrer Anhänger vervielfacht hat. Wir glauben nicht, daß dies der Idee zum Ruhm gereicht. Diese Erscheinung bedeutet einen Rückschritt. In die Städte sind neue Elemente eingezogen, die keine politische Bildung besitzen und die für den Klassenkampf in der schwierigen Form, die er mit der Großindustrie angenommen hat, nicht geschult sind. Die wilden Reden der anarchistischen Agitatoren finden in ihrem instinktiven; erst dämmernden Bewußtsein eine leichte Beute – aber die pseudorevolutionäre Phraseologie schafft nichts Tiefgehendes und Bleibendes. Wer Herr der Geschichte ist und ihr den Rhythmus des Fortschritts aufzwingt, wer das sichere und unaufhaltsame Fortschreiten der kommunistischen Zivilisation bestirnmt, das sind nicht die „Halbstarken“, das ist nicht das Lumpenproletariat [6], das sind nicht die Bohemiens, die Dilettanten, die, langhaarigen und frenetischen Romantiker, sondern das sind die großen Massen der klassenbewußten Arbeiter, die stählernen Bataillone des bewußten und disziplinierten Proletariats.
Die gesamte liberale Tradition ist gegen den Staat. Die liberale Literatur ist eine einzige Polemik gegen den Staat. Die politische Geschichte des Kapitalismus wird durch einen ständigen und stürmischen Kampf zwischen dem Bürger und dem Staat gekennzeichnet.
Das Parlament ist das Organ dieses Kampfes; und das Parlament strebt gerade danach, alle Funktionen des Staates zu übernehmen, das heißt, ihn aufzuheben, indem es ihn jeder effektiven Macht beraubt, weil die gesetzgebende Gewalt des Volkes darauf gerichtet ist, die lokalen Verwaltungskörper und die Individuen von jeder Beschränkung und Kontrolle durch die Zentralgewalt zu befreien.
Der Liberalismus gehört zu den allgemeinen Aktivitäten des Kapitalismus, der danach strebt, sich sichere und garantierte Konkurrenzbedingungen zu verschaffen. Die Konkurrenz ist der erbittertste Feind des Staates. Selbst die Idee der Internationale ist liberalen Ursprungs. Marx entnahm sie der Schule von Cobden [7] und der Propaganda für den freien Austausch von Produkten, aber er tat das auf kritische Weise. Die Liberalen sind nicht in der Lage, den Frieden und die Internationale zu verwirklichen, weil das private und nationale Eigentum Spaltungen, Grenzen, Kriege und Nationalstaaten hervorbringt, die untereinander in ständigem Konflikt stehen.
Der Nationalstaat ist ein Konkurrenzorgan. Er wird verschwinden, wenn die Konkurrenz aufgehoben ist und sich ein neuer ökonomischer Brauch durch die konkreten Erfahrungen der sozialistischen Staaten gebildet haben wird. Die Diktatur des Proletariats ist noch ein Nationalstaat und ein Klassenstaat. Die Begriffe Konkurrenz und Klassenkampf haben sich verschoben, aber die Konkurrenz und die Klassen bestehen weiter. Die Diktatur des Proletariats muß dieselben Probleme wie der bürgerliche Staat lösen: äußere und innere Verteidigung. Das sind die objektiven und realen Bedingungen, mit denen wir rechnen müssen. Zu denken und zu handeln, als ob die Kommunistische Internationale schon existierte, als ob die Zeit des Kampfes zwischen sozialistischen und bürgerlichen Staaten, die Zeit der erbarmungslosen Konkurrenz zwischen den kommunistischen und kapitalistischen Nationalwirtschaften schon überwunden sei, wäre ein verhängnisvoller Fehler für die proletarische Revolution. Die menschliche Gesellschaft durchläuft einen äußerst schnellen Zersetzungsprozeß, parallel zu dem Zersetzungsprozeß des bürgerlichen Staates. Die objektiven realen Bedingungen, unter denen die proletarische Diktatur ausgeübt werden wird, werden die Bedingungen einer fürchterlichen Unordnung, einer erschreckenden Disziplinlosigkeit sein. Deshalb wird die Organisierung eines sehr fest gefügten sozialistischen Staates notwendig sein, der so schnell wie möglich der Zersetzung und der Disziplinlosigkeit Einhalt gebietet, der dem sozialen Gefüge eine konkrete Form gibt und der die Revolution gegen die äußeren Angriffe und die inneren Rebellionen verteidigt. Im Interesse ihrer Existenz und ihrer Entwicklung muß die Proletarische Diktatur einen betont militärischen Charakter annehmen. Das ist der Grund, weshalb man das Problem des sozialistischen Heeres als eines der wesentlichsten Probleme lösen muß.
In dieser Zeit vor der Revolution muß man versuchen, vor allem die noch vorhandenen Vorurteile zu zerstören, die durch die frühere sozialistische Propaganda gegen alle Formen der bürgerlichen Herrschaft hervorgerufen wurden.
Wir müssen heute die Erziehung der Proletariats neu aufnehmen, es an die Idee gewöhnen, daß für eine Aufhebung de Staates in der Internationale ein Typ von Staat notwendig ist, der zur Verfolgung dieses Zieles geeignet ist, daß zur Aufhebung des Militarismus ein neuer Typ des Heeres notwendig sein kann. Das bedeutet, das Proletariat zur Ausübung der Diktatur, zur Selbstregierung zu befähigen. Es werden sehr viele Schwierigkeiten zu überwinden sein, und die Zeit, in der diese Schwierigkeiten weiter bestehen und gefährlich bleiben werden, wird voraussichtlich nicht kurz sein. Aber wenn der proletarische Staat auch nur für einen einzigen Tag bestehen sollte, müssen wir dafür sorgen, daß er Existenzbedingungen vorfindet, die für die Durchführung seiner Aufgabe – die Abschaffung des Privateigentums und der Klassen – geeignet sind.
Das Proletariat hat wenig Erfahrungen in der Kunst des Regierens und Leitens. Die Bourgeoisie wird dem sozialistischen Staat einen ungeheuren offenen oder heimtückischen, gewalttätigen oder passiven Widerstand entgegensetzen. Nut ein politisch erzogenes Proletariat, das sich nicht wegen der möglichen und unvermeidlichen Rückschläge der Verzweiflung hingibt und das Vertrauen verliert, das trotz der Fehler, die die einzelnen Individuen begehen können, und trotz der Rückschritte, die durch die realen Bedingungen der Produktion bedingt sein können, seinem Staat gegenüber treu und loyal bleibt, nur ein solches Proletariat wird die Diktatur ausüben können, wird das unheilvolle Erbe des Kapitalismus und des Krieges beseitigen und die Kommunistische Internationale errichten können. Von Natur aus fordert der sozialistische Staat eine Treue und Disziplin, die sich von der, die der bürgerliche Staat fordert, unterscheidet, ja ihr sogar entgegengesetzt ist. Im Unterschied zum bürgerlichen Staat, der innerlich und äußerlich um so stärker ist, je weniger die Bürger die Aktivität der Machtorgane kontrollieren und verfolgen, fordert der sozialistische Staat die aktive und ständige Teilnahme der Genossen am Leben seiner Institutionen. Außerdem muß daran erinnert werden, daß der sozialistische Staat das Mittel ist, radikale Veränderungen durchzuführen; man verändert den Staat nicht so einfach wie eine Regierung. Eine Rückkehr zu den Institutionen der Vergangenheit würde den kollektiven Tod, das Wüten eines weißen Terrors mit schrankenlosem Blutvergießen bedeuten. Unter den vom Krieg geschaffenen Bedingungen hätte die Bourgeoisie Interesse daran, mit Waffengewalt drei Viertel der Werktätigen zu vernichten, um dem Lebensmittelmarkt Elastizität wiederzugeben und um sich wieder die privilegierten Bedingungen im Kampf für das bequeme Leben zu schaffen, an das sie sich gewöhnt hatte. Mit Skrupeln irgendwelcher Art ist aus keinem Grunde zu rechnen.
Schon von jetzt an müssen wir uns formieren und jenen Geist der Verantwortung herausbilden, der so schneidend und unversöhnlich sein muß wie das Schwert eines Scharfrichters. Die Revolution ist eine große und schreckliche Sache, sie ist kein Laienspiel oder romantisches Abenteuer. Wenn der Kapitalismus im Klassenkampf besiegt sein wird, wird er einen trüben Rest von Gärungen hinterlassen, die gegen den Staat gerichtet sind, oder von Leuten, die nur als Staatsfeinde auftreten, weil sie – einzelne Individuen und Gruppen – sich von den Lasten und der Disziplin frei machen wollen, die für den Erfolg der Revolution unerläßlich sind. Lieber Genosse Petri: Wir arbeiten, um jeden blutigen Zusammenstoß zwischen den revolutionären Fraktionen zu vermeiden, um zu vermeiden, daß sich der sozialistische Staat in der grausamen Notwendigkeit befinden könnte, Disziplin und Treue mit Waffengewalt aufzuzwingen und einen Teil zu vernichten, um das gesellschaftliche Ganze vor dem Zusammenbruch und dem Verderben zu retten. Wir arbeiten, indem wir unsere kulturelle Arbeit leisten, um zu beweisen, daß die Existenz des sozialistischen Staates ein wesentliches Glied in der Kette von Anstrengungen ist, die das Proletariat für seine Emanzipation, für seine Freiheit unternehmen muß.
1. For Ever war das Pseudonym für den Turiner Anarchisten Corrado Quaglino, der auf den Artikel Gramscis Der Tribut der Geschichte damit antwortete, daß er den Sozialisten, selbst soweit sie sich als Revolutionäre bezeichneten, den Vorwurf machte, „Staatsanbeter“ zu sein.
2. Für alle Ewigkeit.
3. Pseudonym für Carlo Masso, Maschineningenieur und Verfasser einiger philosophischer Schriften.
4. Carlo Petri: Emile Vandervelde, Le Socialisme contre l’Etat (Der Sozialismus gegen den Staat), L’Ordine Nuovo, 21. 6. 1919.
5. Empedocle, Pseudonym für Palmiro Togliatti; Caesar ist Cesare Scassaro, der vom Katholizismus zum Sozialismus gekommen war. Beiden warf Petri vor, statt des Absterbens des Staates einen sozialistischen Staat vorauszusehen.
6. Im Original deutsch.
7. Richard Cobden (1804-1865): englischer Ökonom, Fabrikant, Haupt der „Vereinigung für den Freihandel“ von Manchester.
Zuletzt aktualisiert am 8.8.2008