Quelle: Socialistische Monatshefte, Jg. 1897, Nr.7, Juli 1897, S.405-407.
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Man spricht von einer Wissenschaft für das Volk, von einer Kunst für das Proletariat — und nicht nur in der Theorie; auch die Praxis hat das Volk mit Werken beschenkt, die seinen Bedürfnissen gerecht zu werden, seine Bildung, seine Kenntnisse zu erweitern suchen. Die verschiedenen Geschichtsdarstellungcn aus dem Dietz’schen Verlag, die naturwissenschaftlichen und nalioncilö’konomischen Bücher der „Arbeiterbibliothek“ geben dem Proletarier — soweit sie den Weg in seine Hände finden — einen Schatz des Wissens, der ihn dem mit der sogenannten „höheren Bildung“ getauften Bürgerthum schon geistig überlegen machen kann. Bei der Vielseitigkeit dieser Geisteserzeugnisse nimmt es Wunder, dass ein Gebiet fast ganz Übergängen zu sein scheint: die Philosophie!
Verlangt nicht gerade die sozialistische Weltanschauung in der Philosophie ihre Verankerung? Das Gefühl dieser Notwendigkeit hat wohl Engels seiner Zeit veranlasst, die Polemik gegen Dührfng in grösserem, populärem Stil zu führen, aber seine Umwälzung der Wissenschaft bietet nur eine Aneinanderreihung philosophischer Fragmente, wie es die kritische Natur seiner Aufgabe mit sich brachte. Ein System lässt sich da schwer herauslösen. — Den Versuch, ein solches zu schaffen, unternahm Leopold Jacoby in seiner Idee der Entwickelung, von der die beiden ersten Theile erschienen sind; das Werk zu einem Ganzen auszubauen und abzurunden hat der Tod des Autors unmöglich gemacht. Doch was Jacoby entwickelt, ist mehr oder weniger Naturphilosophie,— er selbst war ja Naturforscher von Fach. Die Philosophie als Nebenprodukt der Naturwissenschaft hat ja einer Reihe populär-philosophischer Abhandlungen zum Dasein verhelfen. Aber die mehr oder minder grosse Fragwürdigkeit ihrer Hypothesen richtet sie selbst. Wir können uns nicht damit genügen lassen, dass ihre längst abgelebten und widerlegten Theorieen durch die Kanäle billiger Volksausgaben in die Arbeitennasse sickern, wie dies mit Büchner’s Kraft und Stoff geschehen ist. Und warum soll die moderne Lebensanschauung erst auf dem weiten Umweg über die Naturwissenschaft entwickelt und gefördert werden?
Die Erkenntnissphilosophie der Kant’schen Schule (in der auch noch der Arbeiterphilosoph Dietzgen mit seinem Acquisit der Philosophie haftet), wurde durch die Naturphilosophie abgelöst; aber auch diese hat einer neuen philosophischen Betrachtungsweise Platz machen müssen, die eine psychologische Grundlage suchte. Mit dieser Veränderung des wissenschaftlichen Horizonts wechselte auch das Objekt des Philosophen; war man einst von der idealistischen Seele auf den materialistischen Körper übergegangen, so zog man nun gewissermassen beide Objekte in eins zusammen, und da man dieser Verbindung sich in sich selbst bevvusst war, so nahm man das „realistische Ich“ als Ausgangspunkt und Objekt der philosophischen Reflexion.
Uie „Ichphilosophie“, wie sie aphoristisch aus den modernen Kunstschöpfungen von Ibsen, Dostojewskij, Dehmjl u.A. herausklingt, wie sie in Friedrich Nietzsche ihren jüngsten und blendendsten Vertreter gefunden hat, sie geht allein von dem Individuum aus. Diese Voraussetzungslosigkeit, die Beschränkung auf die eigenste Selbsterkenntniss macht gerade diese Philosophie für den Arbeiter besonders geeignet. Das kapitalistische System, das ihn schon früh seine Haut zu Markte tragen Hess, erweckt dadurch in ihm das Gefühl der Persönlichkeit weit eher als in einem Bürgersöhnchen, das erst auf der Universität seinem Ich eine bunte Mütze aufsetzt. Die Lebenserfahrungen, die der Arbeiter im Kampf ums Dasein reichlich sammelt, lassen bald in ihm Gedanken aufsteigen über die Werthung oder Entwerthung seiner Arbeitskraft, und da sich diese von ihm selbst nicht trennen lässt, so kommt er leicht zu Reflexionen über den Werth seiner Persönlichkeit oder über ihren Unwerth der Welt der Besitzenden gegenüber.
Was trägt denn die sozialistische Bewegung, wenn nicht das erwachte Selbstgefühl der Masse! Selbstbewusstsein und Zielbewusstsein sind hier Korrelatbegriffe, eines ist nicht ohne das andere denkbar. Es ist eine bekannte Thatsache, dass man mehr nachdenkt über das, was man nicht hat, als über das, was man hat; so nisten sich im Kopf des enterbten und enteigneten Proletariers leicht Gedanken ein über Recht und Gewalt, Staat und Gesetz, Eigenthum und Familie. Seine Gedanken sind nicht an das Bestehende gebunden, er braucht nicht Halt zu machen vor den geheiligten Institutionen des Staates, hat er doch nichts zu verlieren, sondern eine Welt zu gewinnen!
Geht diese ganze Gcdankenrichtung nicht parallel mit der „Individualphilosophie?“ Nur dass diese sich viel mühsamer und unvollständiger der Erscheinungen begrifflich zu entledigen suchte, die für das Proletariat schon sachlich in Fortfall gekommen sind. Jedoch birgt diese philosophische Behandlung den grossen Vortheil in sich, dass sie durch den ganzen Bau ihres Systems die Einzelbeobachtung weckt und stützt, und dem philosophirenden Individuum den Einblick und Ueberblick der um ihn kreisenden Welt erleichtert. —
Der klarste und tiefste Ausbauer dieser Ichphilosophie ist Max Stirner, und seine Philosophie des Einzigen und sein Eigenthum ist ein Buch, das sich in der Hand jedes denkenden Arbeiters befinden sollte.
Man hat Nietzsche oft den Nachfolger Stirner’s genannt, und der Zeitfolge nach Hesse sich nichts dagegen einwenden. Stirner schrieb ca. 40 Jahre vor Nietzsche. Aber dem Inhalt nach möchte man das Verhältniss umkehren, da ist Stirner der Vollender und Zusammenfasser der Nietzsche’schen Fragmente. Dabei darf jedoch ein grosser Gegensatz zwischen Beiden nicht unerwähnt bleiben, da dieser gerade am meisten uns Stirner als philosophischen Lehrmeister des Proletariats empfehlen lässt.
Nietzsche ist Aristokrat, Stirner Plebejer (dies Wort im eigentlichen Sinne genommen). Nietzsche schreibt für den bildungsmüden Gebildeten in einem raffinirten, künstlerischen Stil, der zum Verständniss unendlich viel Müsse und positives Wissen voraussetzt — und beides kann der Arbeiter nur schwer erwerben. — Stirner wendet sich an den Egoisten, der das Joch jahrhundertlanger Knechtschaft von Vorurtheilen und Einbildungen, aber auch von Staatsgewalt und Ausbeutung; abschütteln soll. Seine Sprache ist ungeschminkt und derb, er setzt nichts voraus als einen freien Blick und ein freies Herz. Er appellirt an verschiedenen Stellen geradezu an das Proletariergefühl und die Proletarierkraft.
Es ist keine Frage, auch in Stirner muss man sich erst hineinlesen, über einzelne Partien seiner langathmigen Polemik gegen das Christenthum und den Liberalismus der vierziger Jahre muss man hinweglesen. Vor Allem sind Begriffe wie „Volk“, „Liberalismus“, „Kommunismus“ aus der damaligen Zeit herauszudefiniren. Aber trotzdem, man wird bald vergessen, dass das Buch schon über 50 Jahre alt’ist.
Seine Ausführungen über die Entwickelungsgeschichte des Bürgerthums, über Kirche und Staat, seine Rechtstheorie u.s.w. geben eine Fülle weittragender Gedanken. Was er über die Frage des Pauperismus, d.i. die „soziale Frage“ seiner Zeit, sagt — doch vielleicht geben ein paar Beispiele den besten Einblick — da heisst es S.294:
„Man fordert von den Staaten, sie sollen den Pauperismus beseitigen. Mir scheint, das heisst verlangen, der Staat solle sich selbst den Kopf abschneiden und vor die Füsse legen.“
Und weiter S.296:
„Der Pauperismus ist die Werthlosigkeit meiner, die Erscheinung, dass ich mich nicht verwerthen kann. Deshalb ist Staat und Pauperismus ein und dasselbe. Der Staat lässt mich nicht zu meinem Werthe kommen und besteht nur durch meine Werthlosigkeit: er geht allezeit darauf aus, von mir Nutzen zu ziehen, d.h. mich zu exploitiren, auszubeuten, zu verbrauchen, bestünde dieser Verbrauch auch nur darin, dass ich für eine proles sorge (Proletariat); er will, ich soll ‚seine Kreatur’ sein. Nur dann kann der Pauperismus gehoben werden, wenn ich als Ich mich verwerthe, wenn ich mir selber Werth gebe, und meinen Preis selber mache. Ich muss mich empören, um empor zu kommen.“
An dieser Stelle mag noch ein Punkt berührt werden, der ja leider heutzutage oft ausschlaggebend ist. Es ist dies die Thatsache, dass man Stirner ungelegen lässt — als „Philosophen des Anarchismus“. Gegen diese Diskreditirung seiner Philosophie kann man sich nicht scharf genug wenden: ausgeschlachtet kann Jeder von Jedem werden! Und es ist richtig, vom modernen Sozialismus weiss Stirner nichts, er bekämpft auch den utopistischen Kommunismus Weitling’s und Proudhon’s. Aber er spannt seine Philosophie überhaupt nicht in den engen Rahmen eines sozialpolitischen Systems, ihm gilt das Ich und — der Verein! Der Verein ist nichts anderes als der Typus der modernen Kampfesorganisationen, der Gewerkschaft, wie Stirner selbst (S. 315-318) einen Streik solcher Vereinten in den lebhaftesten Farben schildert!
Ein französischer Kritiker nennt den Einzigen ein Buch, das man als Monarch verlässt — un livre qu’on quitte monarque. Nun, das Proletariat war lange genug Sklave, um jetzt auch einmal den Herrn spielen zu dürfen. Doch für die Rolle des Herrn muss es auch Herrenbewusstsein in sich tragen, und das ist die grosse Lehre und die Frucht der Lektüre Stirner’s.
„Man erkennt es nicht in der ganzen Fülle des Werthes, dass alle Freiheit — wesentlich — Selbstbefreiung sei, d. h. dass ich nur soviel Freiheit haben kann, als ich durch meine Eigenheit mir verschaffe. Was nützt den Schafen, dass ihnen Niemand die Redefreiheit verkürzt? Sie bleiben beim Blöken!“ —
1. Im Folgenden ist der Versuch unternommen, auf die Lektüre eines Schriftstellers hinzuweisen, der heutzutage mehr besprochen, als gelesen wird. Es mag nicht unerwähnt bleiben, dass sein philosophisches Hauptwerk in der Reklambibliothek für 80 Pfg. käuflich ist, und somit Jeder an der Hand des Werkes selbst sich sein Urtheil darüber bilden kann. – Anmerk. des Verfassers.
Zuletzt aktualisiert am 15.10.2008