Tony Cliff

 

Die Juden, Israel und der Holocaust

(1998)


Tony Cliff [1], The Jews, Israel and the Holocaust, in: Socialist Review, Nr.219, Mai 1998.
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Die Geburt des Zionismus

Die Französische Revolution befreite das Judentum. Zwischen 1789 und der Vereinigung Deutschlands und der Italiens fast hundert Jahre später verschwand das physische, wirtschaftliche und intellektuelle Ghetto. Mendelssohn, Heine und Marx, allesamt Juden, waren herausragende Persönlichkeiten der deutschen Kultur. Es gab einen weitverbreiteten Antisemitismus und es fanden gar Pogrome statt, das aber war im zaristischen Russland, wo das Joch des Feudalismus noch schwer lastete und der moderne Kapitalismus kaum Einzug gehalten hatte. Als der Kapitalismus alt und klapprig wurde, vor allem nach der großen Depression der 1930er Jahre, wandte er sich gegen alle Errungenschaften seiner Jugendzeit. Jetzt wurden die Juden nicht mehr einfach ins Ghetto gepfercht, sondern, noch viel schlimmer – in die Gaskammern.

Zwischen beiden Perioden kam es allerdings zu einem schlimmen Fall von Antisemitismus in Frankreich. 1895 wurde der Armeeoffizier Dreyfus beschuldigt, deutscher Spion zu sein. Das Gerichtsverfahren glich einer Hexenjagd und war der Auslöser für eine Pöbelhysterie gegen die Juden. Diese antisemitische Welle war das Nebenprodukt des Kampfes zwischen dem aufsteigenden französischen Imperialismus und dem deutschen Imperialismus. Im Paris jener Zeit lebte ein angesehener Wiener Journalist, Theodor Herzl. Aus der ganzen Furore zog Herzl den Schluss, dass der Antisemitismus ein natürliches und unabwendbares Phänomen sei. Er schrieb im Juni 1895: „In Paris gelang ich, wie ich schon sagte, zu einer freieren Einstellung zum Antisemitismus; ich begann, ihn historisch zu verstehen und ihm zu verzeihen. Vor allem erkannte ich, wie sinn- und nutzlos der Versuch ist, den Antisemitismus zu ‚bekämpfen‘.“

Herzl kritisierte Emile Zola und andere Franzosen, in erster Linie Sozialisten, die Dreyfus verteidigten. Er beschwerte sich, dass die Juden „Schutz bei den Sozialisten und den Zerstörern der bestehenden Ordnung suchen (...) Fürwahr, sie sind keine Juden mehr. Sie sind ganz bestimmt auch keine Franzosen mehr. Sie sind wahrscheinlich die zukünftigen Führer des europäischen Anarchismus.“

Er argumentierte, dass die Antwort auf den Antisemitismus darin bestünde, dass die Juden die Länder, in denen sie unerwünscht seien, verlassen und ihren eigenen Staat gründen. Er verkündete, dass bei der Realisierung dieses Ziels „die Antisemiten unsere zuverlässigsten Freunde ... unsere Alliierten sein werden“. Daher suchte er den zaristischen Innenminister Plehwe auf, jenen Mann, der den Kischinewer Pogrom von 1903 organisiert hatte. Er versuchte ihn damit zu ködern, dass ein Auszug der Juden aus Russland die revolutionäre Bewegung, Plehwes Feind, schwächen würde.

Wenn der Antagonismus zwischen Juden und Nichtjuden angeblich naturgegeben und unvermeidlich sei, dann folgte daraus, dass der Antagonismus zwischen Juden und Arabern in Palästina ebenso natürlich und unvermeidlich war. Herzls erste Definition des Zionismus war: „einem Volk ohne Land ein Land ohne Volk zu geben“. Als man ihn darauf aufmerksam machte, dass Araber in Palästina lebten, nahm Herzl es als selbstverständlich an, man müsse sie halt einfach loswerden. Im Juni 1895 schrieb er: „Wir werden versuchen, die mittellose Bevölkerung über die Grenzen zu zaubern, indem wir Arbeitsstellen für sie in den Transitländern finden und zugleich ihnen jede Anstellung in unserem eigenen Land vorenthalten.“ Was für ein empörender Ausdruck angestrebter ethnischer Säuberung!

 

 

Geschlossene zionistische Wirtschaft

Die Zionisten, die ab dem Ende des 19. Jahrhunderts nach Palästina auswanderten, wollten keine Wirtschaft nach dem Vorbild des weißen Südafrikas errichten. Dort waren die Weißen die Kapitalisten und die Schwarzen waren die Arbeiter. Die Zionisten wollten eine ausschließlich jüdische Bevölkerung. Angesichts des sehr niedrigen Lebensstandards der Araber verglichen mit den Europäern und einer weitverbreiteten offenen und versteckten Arbeitslosigkeit konnte dieses Ziel nur durchgesetzt werden, indem den Arabern der Zugang zum jüdischen Arbeitsmarkt versperrt wurde. Dazu griff man auf verschiedene Methoden zurück. Erstens hatte der Jüdische Nationalfonds als Eigentümer eines Großteils des Landes im jüdischen Besitz, darunter großer Flächen Tel Avivs, ein Statut, wonach ausschließlich Juden auf diesem Land beschäftigt werden durften.

Zweitens mussten alle Mitglieder des zionistischen Gewerkschaftsverbandes Histadrut (Generalverband der Jüdischen Arbeiter) zwei Beiträge entrichten, einen für den Schutz der jüdischen Arbeitskraft und einen zweiten für den Schutz der jüdischen Arbeitsprodukte. Die Histadrut organisierte Streikposten gegen Obstgartenbesitzer, die arabische Arbeiter beschäftigten, und zwangen sie zu deren Entlassung. Es war auch ein alltägliches Bild, junge jüdische Männer auf dem jüdischen Markt unter den Gemüse- und Eierverkäuferinnen spazieren zu sehen; wenn sie auf eine stießen, die zufällig Araberin war, gossen sie Brennöl auf das Gemüse und zertrümmerten die Eier.

Ich kann mich erinnern, wie ein Tel Aviver Café angegriffen und fast vollständig verwüstet wurde, nachdem das Gerücht aufgekommen war, dass ein Araber in der Küche als Tellerwäscher beschäftigt sei. Ich kann mich auch an wiederholte Demonstrationen gegen den Vizekanzler der Hebräischen Universität von Jerusalem, Dr. Magnus, während meiner Studentenzeit 1936 bis 1939 erinnern. Dr. Magnus war amerikanischer Jude und ein Liberaler, und sein einziges Verbrechen bestand darin, Pächter eines arabischen Grundbesitzers zu sein.

 

 

Abhängigkeit vom Imperialismus

Im Bewusstsein, dass sie auf den Widerstand der Palästinenser stoßen würden, waren sich die Zionisten immer im Klaren, dass sie auf die Hilfe jener imperialistischen Macht angewiesen waren, die in dem Augenblick den größten Einfluss in Palästina besaß.

Am 19. Oktober 1898 reiste Herzl nach Konstantinopel zu einer Audienz mit Kaiser Wilhelm. Damals war Palästina noch Teil des osmanischen Reichs, das seinerseits Juniorpartner Deutschlands war. Herzl legte dem Kaiser dar, dass eine zionistische Siedlung in Israel den deutschen Einfluss stärken würde, da der Zionismus sein Zentrum in Österreich hatte, einem Partner des deutschen Reichs. Er warb auch mit einer weiteren Verlockung: „Ich erklärte, dass wir die Juden dem Einfluss der revolutionären Parteien entzögen.“

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs, als klar war, dass Palästina Großbritannien zufallen würde, trat der damalige Führer der Zionisten, Chaim Weizmann, mit dem britischen Außenminister Arthur Balfour in Verbindung und erhielt von diesem am 2. November 1917 eine Erklärung, die den Juden ein Heimatland in Palästina zusicherte. Sir Ronald Storrs, der erste britische Militärgouverneur von Jerusalem, erklärte, das zionistische „Unterfangen sei für ihn als Gebenden genauso ein Segen wie für den Nehmenden, denn es schuf für England ‚ein kleines, loyales jüdisches Ulster‘ inmitten eines Meeres des potentiell feindlichen Arabismus.“ Die Zionisten würden zu Palästinas Oraniern [Statthalter Großbritanniens in Nordirland].

Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs wurde klar, dass Großbritannien seine führende Rolle im Nahen Osten an die Vereinigten Staaten verlieren würde. Ben Gurion, der damalige zionistische Führer, eilte deshalb nach Washington, um eine Reihe von Abkommen mit den USA zu zementieren. Israel ist jetzt der zuverlässigste Satellit der Vereinigten Staaten. Es hat seinen Grund, wenn die USA mehr Wirtschaftshilfe an das winzige Israel als an irgendein anderes Land der Welt zahlen. Israel ist auch der größte Empfänger amerikanischer Militärhilfe.

 

 

Der Holocaust

Leo Trotzki erfasste die Barbarei des Faschismus klar und sah die Vernichtung der Juden voraus. Am 22. Dezember 1922 schrieb er: „Man kann sich das Schicksal der Juden schon beim Ausbruch des zukünftigen Kriegs unschwer ausmalen. Aber sogar ohne Krieg wird die nächste Entwicklungsstufe der Weltreaktion sicher die physische Ausrottung der Juden bedeuten. Nur die kühne Mobilisierung der Arbeiter gegen die Reaktion, die Schaffung von Arbeitermilizen, direkter physischer Widerstand gegen die faschistischen Banden, zunehmendes Selbstvertrauen, Aktivität und Kühnheit auf Seiten der Unterdrückten können eine Veränderung der Kräfteverhältnisse herbeiführen, die weltweite Welle des Faschismus stoppen und ein neues Kapitel in der Geschichte der Menschheit aufschlagen.“

Bis zum Zweiten Weltkrieg hatte der Zionismus unter der überwiegenden Mehrheit der Juden weltweit, vor allem unter Juden der Arbeiterklasse, kaum Anhänger. In Polen beispielsweise, wo die größte jüdische Gemeinschaft Europas beheimatet war, fanden im Dezember 1938 und im Januar 1939 in Warszawa, Lodz, Krakow, Lwow, Vilnius und anderen Städten Kommunalwahlen statt. Der Bund, eine sozialistische und antizionistische Arbeiterorganisation, erhielt 70 Prozent der Stimmen in den jüdischen Stadtteilen und 17 von 20 Sitzen in Warschau, während die Zionisten lediglich einen Sitz behielten.

Das alles änderte sich schlagartig durch den Holocaust. Es gibt kaum Juden in Europa, die nicht den Verlust von Familienmitgliedern zu beklagen hätten. Ich erinnere mich an den Besuch einer Tante aus Gdansk bei uns in Palästina kurz vor Kriegsausbruch. Ihre übrigen Verwandten habe ich nicht kennen gelernt, aber sie verschwanden zusammen mit allen anderen im Holocaust. Eine Kusine von mir, die ich sehr gut kannte, zog mit ihrem Ehemann und ihrem fünfjährigen Kind kurz vor dem Krieg nach Europa, sie alle wurden in den Gaskammern ermordet.

Heute sind die überwiegende Mehrheit der Juden Zionisten, und das ist durchaus verständlich.

 

 

Die Katastrophe

Das ist die Bezeichnung der Palästinenser für die Gründung des Staates Israel 1948. Seitdem kam es in den drei Kriegen von 1948, 1967 und 1973 zwischen Israel und den Arabern zu einer massiven ethnischen Säuberung der Palästinenser. Heute gibt es 3,4 Millionen palästinensische Flüchtlinge, weitaus mehr als die Zahl der Palästinenser, die in ihren angestammten Gebieten leben. Zahlen über die Bodenverteilung belegen deren Eliminierung: 1917 besaßen die Juden 2,5 Prozent des Bodens im ganzen Land, 1948 waren es 5,7 Prozent und heute sind es 95 Prozent innerhalb der Grenzen von vor 1967, während die Araber nur noch fünf Prozent ihr eigen nennen.

Es ist einer der tragischsten Fälle der Geschichte, dass ein unterdrücktes Volk wie die Juden, das unter der Barbarei der Nazis gelitten hat, einem anderen Volk Unterdrückung aufgezwungen hat – den Palästinensern, die für den Holocaust keine Schuld tragen.

 

 

Die Lösung

Die Palästinenser besitzen nicht die Kraft, sich selbst zu befreien. Sie haben nicht einmal die Kraft, ernsthafte Reformen zu erkämpfen. Ihre Lage ist eine ganz andere als die der Schwarzen Südafrikas, die bedeutende Reformen errungen haben. Sie haben die Apartheid abgeschüttelt, das Stimmrecht gewonnen und einen schwarzen Präsidenten gewählt. Es stimmt zwar, dass die wirtschaftliche Apartheid nach wie vor besteht. Der Reichtum konzentriert sich in den Händen einer winzigen Anzahl von Weißen, der sich eine winzige Anzahl von Schwarzen zugesellt hat. Die überwiegende Mehrheit der Schwarzen lebt nach wie vor in erbärmlicher Armut. Die Schwarzen Südafrikas sind unvergleichlich stärker als die Palästinenser. Erstens gibt es fünf bis sechs Mal so viele Schwarze wie Weiße in Südafrika, während die Zahl der Palästinenser der der Israelis in etwa gleicht (die Mehrheit der Palästinenser sind geflüchtet). Zweitens bilden die schwarzen Arbeiter das Rückgrat der südafrikanischen Wirtschaft, während die Palästinenser nur eine Randrolle spielen. Die südafrikanische COSATU ist eine mächtige Gewerkschaft, die eine zentrale Rolle bei der Zerschlagung der Apartheid spielte. Die Palästinenser haben keine vergleichbare Gewerkschaftsorganisation.

Wenn es eine Situation gibt, auf die Trotzkis Theorie der permanenten Revolution perfekt passt, dann ist es die der Palästinenser. Er argumentierte, dass keine demokratischen Forderungen, keine nationale Befreiung möglich sind ohne proletarische Revolution. Der Schlüssel zum Schicksal der Palästinenser und aller anderen Menschen im Nahen Osten befindet sich in den Händen der arabischen Arbeiter, deren Hauptzentrum in Ägypten und in geringerem Umfang in Syrien, dem Irak, dem Libanon und anderen Ländern liegt. Tragischerweise hat sich das Potential der arabischen Arbeiterklasse wegen der schädigenden Wirkung des Stalinismus nicht verwirklicht, der die Linke im Nahen Osten lange Zeit dominierte. Es waren die Stalinisten, die sich als Türöffner für die Ba’ath-Partei und Saddam Hussein im Irak betätigten, Assad und der syrischen Ba’ath-Partei an die Macht verhalfen und in Ägypten Nasser und danach den Islamisten den Weg frei machten.

Eine Revolution der arabischen Arbeiterklasse würde dem Imperialismus und dem Zionismus ein Ende bereiten. Es ist schiere Heuchelei zu behaupten, dass dies eine Bedrohung für die Juden in der Region bedeute. Als das Apartheidregime in Südafrika herrschte, behaupteten seine Anhänger, dass der ANC für das Abmetzeln der Weißen eintrat. Nichts dergleichen ist geschehen.

 

Anmerkung

1. Tony Cliff (1917-2000) wurde in Palästina geboren. Er emigrierte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Großbritannien.

 


Last updated on 21.1.2004