Tony Cliff

 

Warum wir eine revolutionäre Partei brauchen

(Juli 1997)


Mitschrift einer Rede gehalten beim Marxism-Kongreß, Juli 1997 in London.
Übersetzung: Ingo Singe
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1. Ungleiches Bewußtsein in der Arbeiterklasse

Warum brauchen wir eine revolutionäre Partei? Der Hauptgrund dafür findet sich in zwei Aussagen von Marx. Er sagte, daß die Emanzipation der Arbeiterklasse der Akt der Arbeiterklasse selbst sein müsse. Gleichzeitig sagte er, daß die herrschenden Ideen in jeder Gesellschaft die Ideen der herrschenden Klasse seien. Diese beiden Aussagen beinhalten einen Widerspruch. Aber dieser Widerspruch existiert nicht in Marx Kopf, sondern in der Wirklichkeit.

Wäre nur eine der beiden Aussagen richtig, gäbe es keine Notwendigkeit für eine revolutionäre Partei. Wenn es einfach so wäre, daß die Emanzipation der Arbeiterklasse der Akt der Arbeiterklasse selbst ist, dann bräuchten wir nicht für den Sozialismus zu kämpfen. Wir bräuchten uns nur lächelnd zurücklehnen. Denn die Arbeiter werden sich schon selbst befreien. Wäre es dagegen allein richtig, daß die herrschenden Ideen immer die Ideen der Herrschenden sind, die Arbeiter also immer die Vorstellungen der Herrschenden akzeptieren, dann könnten wir uns auch zurücklehnen. Aber dann müßten wir in Tränen ausbrechen, denn es könnte ja nichts getan werden.

Tatsächlich sind beide Aussagen von Marx richtig. Der Klassenkampf drückt sich nicht immer nur in einem Konflikt zwischen Arbeitern und Bossen aus, sondern auch in Kämpfen innerhalb der Arbeiterklasse. Wenn sie Streikposten stehen, versuchen die Arbeiter doch nicht, die Kapitalisten von der Arbeit abzuhalten. Die Kapitalisten arbeiten gewöhnlich nicht, also werden sie auch nicht während eines Streiks arbeiten. Auf einem Streikposten geht es darum, daß ein Teil der Arbeiter einen anderen Teil der Arbeiter davon abhalten will, die Streikposten im Sinne der Bosse zu durchbrechen.

Wozu sollte man Arbeitermacht, die Marx die Diktatur des Proletariats nannte, brauchen, wenn die gesamte Arbeiterklasse vereint wäre und nur eine winzige Minderheit von Kapitalisten gegen die Arbeiter? Wäre die Arbeiterklasse immer vereint, könnten wir die Unternehmer einfach nach Hause schicken. Wäre die Arbeiterklasse völlig einig, würden wir auf die Bosse spucken und sie in den Atlantik spülen.

In der Wirklichkeit ist es so, daß wir fortschrittliche Arbeiter auf der einen und rückständige Arbeiter auf der anderen Seite haben. Weil die herrschenden Ideen die Ideen der Herrschenden sind, spalten sich die Arbeiter nach unterschiedlichen Ebenen der Bewußtseinsentwicklung. Und nicht nur das: Auch das Bewußtsein eines einzelnen Arbeiters ist gespalten. Er oder sie kann militant sein, wenn es um höhere Löhne geht und den Boss hassen. Das heißt nicht, daß er oder sie zwangsläufig gegen Rassismus ist. Einst lebten wir mit einem Drucker zusammen, einem hochqualifizierten Arbeiter. Er wollte in die Ferien und ich fragte ihn: „Fliegst du morgen in die Ferien?“ Er antwortete: „Nein, morgen kann ich nicht fliegen, es ist Freitag der 13. Ich muß bis Samstag warten.“ Dieser Mann des 20. Jahrhunderts hatte tausend Jahre alte Ideen in seinem Kopf.

 

 

2. Gegen Opportunismus und Sektierertum

Es kann passieren, daß man auf einem Streikposten steht und ein Arbeiter neben einem macht rassistische Kommentare. Dann kann man drei Dinge tun. Man kann sagen: „Ich stehe nicht gemeinsam mit einem Rassisten Streikposten. Ich gehe nach Hause, da macht wenigsten keiner rassistische Kommentare.“ Das ist Sektierertum. Denn wenn die Emanzipation der Arbeiterklasse Sache der Arbeiter ist, muß ich mit dem Arbeiter Streikposten stehen.

Die andere Möglichkeit besteht darin, die Frage des Rassismus einfach zu umgehen. Jemand macht einen rassistischen Kommentar und man tut so, als hätte man nichts gehört und sagt: „Schönes Wetter heute“. Das ist Opportunismus.

Die dritte Möglichkeit besteht darin, sich mit der Person über den Rassismus, über die herrschenden Ideen, auseinanderzusetzen. Man streitet und streitet. Wenn man die Person überzeugt – sehr gut! Aber wenn man es nicht schafft, den anderen zu überzeugen, und der Bus mit den Streikbrechern kommt, bildet man trotzdem zusammen eine Kette, um die Streikbrecher zu stoppen. Denn die Befreiung der Arbeiter kann nur durch die Arbeiter selbst geschehen. Das ist revolutionäre Politik.

 

 

3. Die revolutionäre Partei: die Universität der Arbeiterklasse

Zwanzig Jahre vor ihrer Revolution hatte die französische Bourgeoisie keine eigene Partei. Die Jakobiner existierten gar nicht vor dem Jahr 1789. Warum versuchen wir, 20, 30 oder 50 Jahre vor der Revolution, eine revolutionäre Partei aufzubauen? Schon lange bevor wir die Arbeiterklasse im Kampf, in der Revolution, führen, müssen wir über die Notwendigkeit einer revolutionären Partei reden.

Die Jakobiner konnten sich während der Revolution selbst herausbilden. Warum? Weil das Verhältnis zwischen den Kapitalisten und dem Adel ein anderes war als es heute das Verhältnis zwischen den Kapitalisten und den Arbeitern ist.

Es ist richtig, daß die Kapitalisten damals den Adel stürzen mußten, und daß die Arbeiter heute die Kapitalisten stürzen müssen, aber dazwischen gibt es einen riesigen Unterschied. Es ist nicht wahr, daß der Adel ungeheuer reich war und die Kapitalisten alles arme Schlucker waren. Die Kapitalisten waren schon vor der Revolution enorm reich. Sie konnten zum Adel sagen: „Euch gehört das Land, aber wir besitzen Geld. Uns gehören die Banken. Wenn Ihr pleite geht, versucht Ihr Euch zu retten, indem Ihr unsere Töchter heiratet, um so Euer blaues Blut mit unserem Gold zu mischen.“ Wenn es um die Ideen ging, sagten die Kapitalisten: „Ihr mögt Eure Priester haben, aber wir haben Professoren. Ihr habt die Bibel, wir haben die Enzyklopädie. Los, tretet ab.“

Die Kapitalisten waren intellektuell von den Ideen des Adels unabhängig. Ihr Denken beeinflußte den Adel viel mehr als andersherum das Denken des Adels die Bourgeoisie beeinflußte. Die Französische Revolution begann mit einem Treffen der drei Stände – des Adels, des Klerus und der Mittelklassen. Als es zur Abstimmung kam, stimmten der Adel und der Klerus mit den Kapitalisten, nicht andersherum.

Ist unsere Position ähnlich wie die der Kapitalisten? Natürlich nicht. Wir können uns nicht an die Kapitalisten wenden und sagen: „ OK, Euch gehören Ford, General Motors und ICI, aber wir besitzen ein Paar Schuhe.“ Es ist auch nicht so, daß Kapitalisten ihre Töchter mit den Söhnen ihrer Arbeiter verheiraten, um nicht bankrott zu gehen. Wenn es um den Einfluß von Ideen geht, ist klar, daß Millionen von Arbeitern von der Sun (engl. Version der Bild) beeinflußt werden. Aber wie viele Kapitalisten werden durch die Ideen des Socialist Worker (Zeitung der Socialist Workers Party) beeinflußt?

Die revolutionäre Partei der Bourgeoisie konnte in den revolutionären Kämpfen selbst entstehen. Die Bourgeoisie mußte sich nicht vorbereiten, sie besaß ein enormes Selbstvertrauen. Was passierte am 14. Juli 1789? Robespierre, der Führer der Jakobiner, schlug vor, daß man für Louis XVI. eine Statue in der Nähe der Bastille errichten sollte. Da wußte er noch nicht, daß er drei Jahre später den Kopf von König Louis abschlagen würde. Woher kommt der Name Jakobiner? Er kommt von dem Kloster, in dem die Jakobiner sich trafen.

Die Bourgeoisie war unabhängig und stark. Wir befinden uns in einer komplett anderen Situation. Wir gehören einer unterdrückten Klasse an. Uns fehlt es an Erfahrung, die Gesellschaft zu leiten, denn die Kapitalisten besitzen nicht nur die Mittel der materiellen, sondern auch die der geistigen Produktion. Deswegen brauchen wir eine Partei – die Partei ist die Universität der Arbeiterklasse. Was Sandhurst (militärische Eliteschule) für die Britische Armee ist, ist die Partei für die Arbeiterklasse.

Marx schreibt im Kommunistischen Manifest, daß die Kommunisten die historischen und internationalen Erfahrungen der Arbeiterklasse verallgemeinern müssen. In anderen Worten: Wir lernen nicht nur aus unseren eigenen, persönlichen Erfahrungen. Mein Schatz an persönlichen Erfahrungen ist winzig. Jeder von uns hat nur wenig direkte, eigene Erfahrungen. Deshalb müssen wir in der Lage sein, zu verallgemeinern und gerade die Organisation macht dies möglich. Ich selbst habe keine unmittelbaren Erfahrungen aus der Pariser Kommune von 1871. Ich war damals noch sehr jung. Also brauche ich jemanden, der die Erfahrungen vermitteln kann. Aus diesem Grund schrieb Trotzki, daß die Partei das Gedächtnis der Arbeiterklasse sein muß.

 

 

4. Drei Arten von Arbeiterparteien

Es gibt drei Arten von Arbeiterparteien: revolutionäre, reformistische und zentristische. Das Kommunistische Manifest beschreibt den Charakter der revolutionären Partei folgendermaßen:

Die Kommunisten unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen, von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, anderseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten. Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.

Die zweite Art von Arbeiterparteien sind die reformistischen Parteien. In einer Rede vor dem Zweiten Kongreß der Kommunistischen Internationale 1920 definierte Lenin die Labour Party als eine „kapitalistische Arbeiterpartei“. Er bezeichnete sie als kapitalistisch, weil die Politik von Labour den Rahmen des Kapitalismus nicht in Frage stellt. Warum nannte er sie dann gleichzeitig eine Arbeiterpartei? Nicht, weil die Arbeiter sie wählten. Zu der Zeit wählte die Mehrheit der Arbeiter die Konservative Partei. Und die ist natürlich eine kapitalistische Partei. Lenin verstand Labour als Arbeiterpartei, weil sie den Drang der Arbeiter ausdrückte, sich gegen die Übel des Kapitalismus zu wehren. Wenn man die Konferenzen der Labour Party im Fernsehen verfolgt, wird klar, daß die Mitgliedschaft ganz andere Hoffnungen und Sehnsüchte hat als die Mitglieder der Tories. Bei den Parteitagen der Tories brandet der Applaus auf, wenn die Redner Gewerkschafter und Schwarze angreifen oder die Armee und die Polizei lobpreisen. Bei den Parteitagen der Labour Party klatschen die Leute, wenn bessere Gesundheitsvorsorge, bessere Erziehung und Wohnungsversorgung gefordert werden.

Zwischen den revolutionären und den reformistischen Parteien gibt es eine dritte Art von Partei, die zentristische Arbeiterpartei. Ihr Hauptcharakteristikum ist, daß sie zu vermeiden versucht, sich auf eine klare Position festzulegen. Sie ist weder das eine noch das andere. Sie schwankt zwischen revolutionären und reformistischen Positionen. Ein Pferd pflanzt sich als Pferd fort, ein Esel als Esel. Wenn Pferd und Esel sich paaren, kommt dabei ein Maultier heraus. Aber Maultiere können sich nicht fortpflanzen. In einer revolutionären Partei gibt es eine Kontinuität. Die Partei mag wachsen oder schrumpfen, aber die revolutionäre Tradition lebt fort. Für die zentristischen Parteien gilt das nicht. 1936 hatte die POUM in Spanien 40.000 Mitglieder. Heute ist die POUM absolut tot. Die Independent Labour Party in Großbritannien hatte nach der Wahl 1945 vier Unterhausabgeordnete. Heute existieren von ihr noch nicht einmal mehr Reste. Ähnliches gilt für die deutsche SAP. Sie war eine Mischung aus dem (rechten) Brandler-Flügel der KPD, Pazifisten aus der SPD und verschiedenen anderen. In den 30er Jahre war die SAP ziemlich groß, aber heute ist sie nicht mehr existent.

 

 

5. Der Revolutionär führt die Arbeiterklasse und lernt von ihr

Die revolutionäre Partei muß die Arbeiterklasse auf der Basis der historischen Erfahrungen führen. Die Arbeiterklasse lernt also von der Partei. Aber von wem lernt die Partei? Es ist wichtig zu verstehen, daß die Partei von der Arbeiterklasse lernen muß. Alle großen Ideen kommen aus der Arbeiterbewegung selbst heraus. Im Kommunistischen Manifest spricht Marx von der Notwendigkeit einer Arbeiterregierung, der Diktatur des Proletariats. 1871 schrieb er dann, daß die Arbeiter die alte Staatsmaschinerie nicht einfach für sich nutzen und sie übernehmen könnten, sondern den Staat, d.h. die alte Bürokratie, die Armee und die Polizei, zerschlagen müßten. All diese hierarchischen Strukturen müssen von uns zerschlagen werden. Wir müssen eine neue Art von Staat aufbauen – einen Staat ohne stehendes Heer, ohne Bürokratie, wo alle Offiziellen gewählt werden und soviel Lohn erhalten wie ein normaler Arbeiter. Fand Marx all dies über den Arbeiterstaat heraus, weil er so fleißig im Britischen Museum las? Nein. Er lernte von den Pariser Arbeitern, die in der Pariser Kommune 1871 die Macht ergriffen und genau diese Maßnahmen ergriffen hatten.

Marx lernte von den Arbeitern und ihrer Praxis. Die Stalinisten behaupten immer wieder, daß Lenin die Idee der Arbeiterräte erfunden hätte. In der stalinistischen Literatur hat Lenin eigentlich alles erfunden. Die Stalinisten hatten ein Konzept von Hierarchie, das im Endeffekt auf eine Art Religion herauslief. Wir kennen die Briefwechsel von Lenin. Als die Petrograder Arbeiter 1905 die ersten Arbeiterräte bildeten, fragte Lenin vier Tage später, wozu das gut sein solle.

In dem Kampf brauchten die Arbeiter eine neue Form der Organisation. Sie lernten durch die eigenen Erfahrungen, daß in den Zeiten der Revolution ein Streikkomitee in einem einzelnen Betrieb nicht ausreichte. Man brauchte jetzt eine Form von Organisation, eine Art Streikkomitee, die alle Fabriken umfaßte. Und genau das waren die Sowjets, die Arbeiterräte: Delegierte aus allen Betrieben kamen zusammen, um gemeinsam zu entscheiden. Sie haben es einfach getan. Und Lenin verstand das schließlich und folgte ihnen. So wie Lenin muß die Partei immer von der Klasse lernen.

Ist die Partei immer fortschrittlicher als die Klasse? Im Großen und Ganzen ist die Partei fortschrittlicher als die Klasse. Sonst ist sie keine revolutionäre Partei. Wenn wir 1914 und den Ausbruch des Ersten Weltkriegs betrachten, sehen wir, daß die Partei viel fortschrittlicher war als die Klasse: Die Bolschewiki waren gegen den Krieg, während die Mehrzahl der Arbeiter ihn unterstützte. Aber dann kam das Jahr 1917. Im den Monaten August und September 1917 beklagte sich Lenin immer wieder, daß die Partei sich langsamer entwickelte als die Klasse. Die Klasse war fortschrittlicher als die Partei, und die Partei mußte sich bemühen, mit dem Entwicklungstempo der Klasse Schritt zu halten. Der Grund für diese Entwicklung ist leicht herauszufinden. Lange Zeit fehlte den Arbeitern das Selbstvertrauen, also blieben sie hinter der Partei zurück. Aber die objektiven Umstände änderten sich, die Kämpfe eskalierten und die Arbeiter lernten und veränderten sich rasend schnell.

Das Problem für Revolutionäre ist, daß wir eine gewisse Routine haben müssen, um überleben zu können. Aber die Routine frißt sich in uns hinein. Man sieht es als selbstverständlich an, fortgeschrittener zu sein als die Arbeiterklasse. Aber wenn die Arbeiter in Bewegung geraten, merkt man auf einmal, daß man verdammt rückständig ist! Die revolutionäre Partei muß dann erst einmal mit der Entwicklung der Klasse Schritt halten. Denn die Partei ist nicht einfach eine feste Gruppe von Leuten, die Revolutionäre sind und allein schon aus diesem Grund immer die Führung sein können. Um die Führung muß man permanent kämpfen. Man muß bereit sein, immer dazuzulernen und sich zu entwickeln.

Und das trifft nicht nur auf revolutionäre Zeiten zu. An manchen Arbeitsplätzen kann man feststellen, daß gute Genossen, die seit 20 Jahren in der SWP sind, hinter Genossen herhinken, die erst ganz neu in der Organisation sind, wenn es um Aktivität geht. Das passiert immer wieder. Mit der Führung einer revolutionären Organisation verhält es sich ganz anders als mit einem Sparguthaben bei einer Bank. Geld auf dem Bankkonto bringt Zinsen ein. Revolutionäre Führung ist etwas vollständig anderes. Sie muß jeden Tag und jeden Monat neu gewonnen werden. Für die Führung zählt, was sie letzte Woche getan hat, was sie diese Woche tut und nächste Woche tun wird. Man kann die Erfahrung der letzten Jahrhunderte haben, wichtig aber ist, was man in der aktuellen Situation auch wirklich tut. Um revolutionäre Führung muß also ständig gekämpft werden.

 

 

6. Der Charakter reformistischer Parteien: Passivität und Anpassung

Weil die reformistischen Parteien immer nur nach möglichst vielen Stimmen bei den nächsten Wahlen streben, suchen sie immer nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Sie passen sich den herrschenden Ideen an. Es glaubt doch wirklich niemand, daß die Abgeordneten von Labour nicht von der Unterdrückung von Schwulen und Lesben wissen. Aber 1983 spielte Patricia Hewitt, Neil Kinnocks Sekretärin, der Sun ein Papier zu, in welchem die linken Stadtverwaltungen angegriffen wurden, die Schwule und Lesben unterstützten. Warum tat sie das? Sie tat es, weil sie glaubte, daß es sie beliebt machen würde.

Ich besitze ein Flugblatt, das von einem Mann namens John Strachey verfaßt wurde. Wer bezeichnete sich als Marxisten. 1929 kandidierte er fürs Parlament. Aber er hatte ein Problem: Er sah jüdisch aus. Also ließ er ein Flugblatt mit der Überschrift „John Strachey ist britisch“ drucken und drohte damit, jeden vor Gericht zu bringen, der behauptete, Strachey sei Jude.

Warum tat er das? Ich selbst bin Jude. Und jedes Mitglied der SWP, das als Jude bezeichnet wird, sagt: „Natürlich bin ich ein Jude. Ich bin stolz darauf !“ Aber wenn man auf die maximale Stimmenzahl zielt, muß man sich an die herrschenden Ideen anpassen. Deswegen sind die reformistischen Parteien gewöhnlich sehr groß und gleichzeitig sehr passiv.

Es gibt ein Buch mit dem Namen Labour’s Grassroots (Die Basis der Labour Party), dem man die Altersstatistik der Partei entnehmen kann. 1984 gab es 573 Gruppen der Young Socialists (Jungsozialisten), 1990 nur noch 15. Es gibt dreimal so viele Mitglieder im Alter von 66 und darüber wie unter 25jährige.

Die Labour-Mitglieder wurden gefragt, wieviel Zeit sie in die Parteiarbeit investierten. 50% taten gar nichts, 30% waren bis zu fünf Stunden im Monat aktiv und nur zehn Prozent sagten, sie investierten zwischen fünf und zehn Stunden. Extreme Passivität – das ist charakteristisch für die Labour Party. Die andere Seite der Medaille ist die bürokratische Kontrolle. Die Bürokraten beherrschen die Partei.

Dann gibt es natürlich noch die Sekte. Deren Mitglieder sagen ganz einfach: „Wir kämpfen nur mit Leuten, die voll mit uns übereinstimmen. Alle anderen interessieren uns nicht.“

Die wirklichen Revolutionäre dagegen lassen sich von der Arbeiterklasse insgesamt unterscheiden, sind aber gleichzeitig ein Teil dieser Klasse. Die Hauptfrage für Revolutionäre ist, wie man sich auf Arbeiter bezieht, die noch keine Revolutionäre sind. Wie bezieht man sich auf Leute, die zu 60% unserer Meinung sind und wie erreicht man es, daß aus den 60% im Kampf vielleicht 80% werden?

Als Sektierer sagt man: „Du stimmst zu 40% nicht mit mir überein, Du bist mir egal.“ Als Revolutionär sagt man: „ Wir stimmen zu 60% überein. Das ist eine gute Ausgangslage. Laß uns damit beginnen und über die restlichen 40% diskutieren. Ich werden versuchen, Dich zu überzeugen.“

 

 

7. Demokratischer Zentralismus

Wie sieht es mit der Struktur der revolutionären Partei aus? Warum sprechen wir vom demokratischen Zentralismus?

Ersteinmal müssen wir verstehen, warum wir die Demokratie benötigen. Wenn man von London nach Birmingham reisen will, braucht man einen Bus und einen Busfahrer. Man braucht keine großartige demokratische Diskussion, weil man schon oft von London nach Birmingham gereist ist und den Weg kennt. Das Problem liegt aber darin, daß wir den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus noch nie erlebt haben. Wenn man etwas noch nicht kennt, muß man eben lernen. Und dazu gibt es nur einen Weg. Man muß in der Klasse verankert sein und von der Klasse lernen.

Es ist ja nicht so, daß man einfach mit Demokratie jedes Problem lösen könnte. Wenn man herausfinden will, ob Marx Recht hatte, als er den tendenziellen Fall der Profitrate beschrieb, kann man darüber nicht abstimmen. Denn das würde nichts bedeuten – entweder hatte Marx Recht oder aber nicht. Denk darüber nach, lies und entscheide schließlich.

Andere Dinge aber kann man nicht anders entscheiden als über demokratische Abstimmungen. Alles, was den Klassenkampf betrifft, muß einer praktischen Prüfung unterworfen werden. Weil wir sonst einfach nichts herausfinden. Weil die Emanzipation der Arbeiter die Sache der Arbeiter selbst ist, wird die Erfahrung, die die Arbeiter selbst machen, uns lehren.

Darüber gibt es eine wundervolle Beschreibung von Lenin aus der Zeit nach dem Juli 1917. Lenin mußte sich verstecken, die Partei wurde verboten und ihre Presse zerschlagen. Die Bolschewiki wurden beschuldigt, deutsche Agenten zu sein. Lenin wußte nicht, inwieweit die Reaktion nach dem Juli ihre Macht wieder gefestigt hatte. Er beschreibt eine Mahlzeit mit einem Arbeiter, mit dem er sich in einem gemeinsamen Versteck befand. Der Arbeiter gab ihm Brot und sagte: „Das Brot ist gut. Sie, die Kapitalisten, haben Angst vor uns.“ Lenin erinnerte sich später: „In dem Moment, als ich den Arbeiter sprechen hörte, verstand ich das Verhältnis der Klassenkräfte. Ich wußte, was die Arbeiter wirklich dachten, nämlich daß das Kapital noch immer ängstlich ist, obwohl wir in der Illegalität sind, obwohl wir geschlagen scheinen. Der Sieg der Konterrevolution ist noch nicht perfekt.“

Wie soll man herausfinden, ob die Arbeiter sich stark fühlen und kämpfen wollen? Man kann keine Meinungsumfrage oder eine Streikabstimmung in der bürgerlichen Presse veranstalten. Dazu wird man keine Gelegenheit bekommen. Man kann auch nicht jeden einzelnen Arbeiter fragen.

Ohne breite und tiefe Demokratie kann man keine Arbeiterrevolution machen. Und schließlich ist es das Ziel der Revolution, daß die Arbeiterklasse sich zur herrschenden Klasse erhebt, um das demokratischste System der Menschheitsgeschichte zu errichten. Das ist eine ganz andere Form von Demokratie als die des Kapitalismus, in dem man alle fünf Jahre jemanden wählt, der einen dann noch nicht einmal wirklich repräsentiert. Im Kapitalismus wählt man die Parlamentsabgeordneten, aber nicht die Arbeitgeber. Im Kapitalismus wird nicht darüber abgestimmt, ob eine Fabrik geschlossen werden soll oder nicht. Wir dürfen weder die Offiziere in der Armee noch die Richter wählen. In einem Arbeiterstaat muß alles unter der Kontrolle der Arbeiter sein. Alles liegt in der Macht der Arbeiter. Das ist die höchste Form der Demokratie.

Das vorausgesetzt, wozu benötigen wir dann Zentralismus?

Zunächst einmal sind die Erfahrungen der Arbeiter und der Parteimitglieder ungleich. Die Arbeiter machen unterschiedliche Erfahrungen und diese Erfahrungen müssen gesammelt werden. Sogar in der revolutionären Partei unterliegen die Mitglieder ganz unterschiedlichen Formen von Druck. Sie werden vom allgemeinen Zustand der Dinge beeinflußt und von der Sektion der Klasse, zu der sie gehören. Um diesen Sektionalismus zu überwinden und diese begrenzten Erfahrungen zu erweitern, müssen alle Erfahrungen zentralisiert werden.

Und man braucht den Zentralismus, weil die herrschende Klasse in hohem Maße zentralisiert ist. Wenn man nicht symmetrisch zu seinem Feind ist, kann man nicht gewinnen. Ich bin nie ein Pazifist gewesen. Wenn jemand mich mit einem Knüppel angreift, brauche ich einen größeren Knüppel. Ich glaube nicht daran, daß ein Zitat aus Marx Kapital einen wilden Hund davon abhält, mich anzugreifen. Wir müssen ähnliche Waffen wie unsere Feinde benutzen, wir müssen eine Symmetrie herstellen. Deswegen verstehe ich die Anarchisten nicht, die sagen, wir bräuchten keinen Staat. Die Kapitalisten besitzen einen Staat. Wie sollen wir diesen Staat zerschlagen ohne dafür einen eigenen Staat zu nutzen?

Die Anarchisten lehnen den Staat grundsätzlich ab. Aber als sie selbst sich in einer sehr machtvollen Position befanden, traten sie in eine bürgerliche Regierung ein. Genau das taten sie in Spanien während des Bürgerkrieges. Warum? Weil es keinen Sinn macht, etwas zu ersetzen, ohne es zu zerschlagen. Und wenn man etwas zerschlägt, muß man eine Vorstellung davon haben, womit man es ersetzen will. Nämlich mit Körperschaften bewaffneter Arbeiter. Und genau das ist der Arbeiterstaat.

 

 

8. Die Notwendigkeit einer revolutionären Massenpartei

Wenn wir von der Führung der Arbeiterklasse durch die Partei reden, dann ist damit mehr verbunden als nur die Frage von Erfahrung, theoretischem Wissen und der Verankerung in der Klasse. Die Führung muß immer die Sprache der Klasse sprechen und in sich den Geist der Arbeiter tragen. Denn bei der Führung geht es immer darum, sich auf die Arbeiter zu beziehen. Man muß reden und auch zuhören können, nicht einfach nur predigen. Und man muß in einer Sprache reden, die die Arbeiter verstehen.

Aber auch das ist noch nicht genug. Wir brauchen eine große Partei. Um die Arbeiterklasse führen zu können, braucht man eine wirkliche Massenpartei. Die SWP ist die kleinste Massenpartei der Welt. Sie ist eine winzige Partei. 1914 hatten die Bolschewiki 4.000 Mitglieder. Nach der Februarrevolution 1917 hatten sie 23.000 Mitglieder und im August 250.000. Mit einer Viertelmillion kann man eine industrielle Arbeiterklasse von drei Millionen führen.

1918 hatten die Kommunisten in Deutschland 4.000 Mitglieder. Selbst wenn sie alle Genies gewesen wären, hätten sie die Revolution nicht gewinnen können. Man braucht eine große Partei. Denn um die Klasse führen zu können, braucht man eine wirkliche Basis in jedem Betrieb.

Ich habe bereits die Juli-Tage in Rußland erwähnt. Als Lenin als deutscher Spion angegriffen wurde, streikten 10.000 der 30.000 Arbeiter der Putilov-Werke in Petrograd für einen Tag, um ihr Vertrauen in Lenin zu zeigen. Das war nur möglich, weil es in den Werken 500 aktive Bolschewiki gab.

Wenn man Millionen führen will, braucht man eine Partei von Hunderttausenden. Selbst der Carnival der Anti-Nazi-League mit 150.000 Teilnehmern, eine fantastische antifaschistische Kundgebung, war eine kleine Sache, wenn man ihn mit der Revolution vergleicht. Und allein um diesen Carnival zu organisieren, brauchten wir sechs, sieben oder achttausend SWP-Mitglieder.

Ich habe nichts als Verachtung übrig für Leute, die glauben, daß der Marxismus eine Art intellektueller Turnübung ist: Wir interpretieren Dinge, wir verstehen sie und sind dann schlauer als alle anderen. Der Marxismus ist eine Theorie des Kampfes, und um kämpfen zu können, braucht man Masse. Für den Kampf braucht man Kraft. Wir brauchen eine Massenpartei von einer halben Million.

 


Last updated on 13.10.2002