Nikolai Bucharin

 

Anarchismus und wissenschaftlicher Kommunismus

(1918)


N.Bucharin, Anarchismus und wissenschaftlicher Kommunismus, Hamburg 1918.
Nachgedruckt in Karl-Heinz Neumann (Hrsg.), Marxismus Archiv, Bd.I, Marxismus und Politik, Frankfurt/M. 1971, S.272-279.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Auf dem Hintergrunde der Erscheinungen des Zerfalls der Produktion und der unbedingt damit verbundenen Zersetzung der gesunden proletarischen Psychologie entsteht die Neigung, die Forderungen des Proletariats in Bestrebungen der allgemeinen Masse des „Volksganzen“, d.h. in der Hauptsache des Bauerntums, aufzulösen. Andererseits schaffen diese Erscheinungen einen mehr oder minder günstigen Boden für anarchistische Stimmungen dadurch, daß sie das Proletariat lumpenproletarisieren, einzelne seiner Teile aus produktiv tätigen Arbeitern in deklassierte Individuen, die ihre Verbindung mit ihrer Masse verloren haben, verwandeln, die mit der proletarischen Gemeinschaft durch Bande der gemeinsamen Massenarbeit und des Klassenkampfes nicht verbunden sind. Einige krachende Aktionen der Anarchisten, der Lärm, den sie und die bürgerlichen Blätter anläßlich der berüchtigten Liquidierung der berüchtigten Moskauer „Sturmwinde“, „Orkane“ und anderer Gruppen, die ebenso poetische Bezeichnungen tragen, wie unpoetisch der Inhalt ihrer Politik ist, machten, alles das veranlaßt uns, die Scheidelinie zu ziehen zwischen dem wissenschaftlichen Kommunismus von Marx und den Theorien der Anarchisten. Es ist dies umso notwendiger, als die Sozialdemokraten die Lehre von Marx von Grund auf verfälscht und verunreinigt, sie theoretisch an die Bourgeoisie verraten haben, ebenso wie sie praktisch das Proletariat verraten und das Problem des Anarchismus so gründlich verwirrt und getrübt haben, daß wir nicht umhin können, auch die Ansichten der Sozialverräter über den Anarchismus zu streifen, um die Lehre Marx’ von dem Kot zu säubern, mit dem die Herren Plechanow, Renner, Guesde und sonstige „Staatsgenies“ – wer zählt die Völker, kennt die Namen – sie bedeckt haben.

 

I

Wir beginnen mit dem „Endziel“ mit unserem und dem der Anarchisten. Die landläufige Vorstellung in dieser Frage geht dahin, der Kommunismus und Sozialismus setzten die Beibehaltung des Staates voraus, während die „Anarchie“ diesen Staat beseitige. „Anhänger“ des Staates und „Gegner“ des Staates, so definiert man den „Gegensatz“ zwischen Marxisten und Anarchisten.

Es muß festgestellt werden, daß an einer derartigen Definierung des „Gegensatzes“ in hohem Maße nicht nur die Anarchisten, sondern auch die Sozialdemokraten Schuld tragen. Das Geschwätz vom „Zukunfts-Staat“, vom „Volks-Staat“ hat sich in der Gedankenwelt der Sozialdemokratie breit gemacht. Einige sozialdemokratische Parteien waren sogar stets bestrebt, ihren „staatlichen“ Charakter besonders hervorzuheben. Wir sind die wahren Träger der „Staatsidee“ – das war eine beliebte Phrase im Munde der österreichischen Sozialdemokratie. Derartige Anschauungen waren nicht allein in den Kreisen der österreichischen Partei weit verbreitet. Sie hatten gewissermaßen internationale Verbreitung und haben sie sogar heute noch und zwar in dem Maße, als die alte Partei noch nicht endgültig verfault ist.

Dessen ungeachtet hat diese „Staatsweisheit“ mit der revolutionär-kommunistischen Lehre von Marx nichts gemein.

Der wissenschaftliche Kommunismus sieht im Staat die Organisation der herrschenden Klassen, ein Werkzeug der Unterdrückung und Gewalt, es kann bei ihm natürlich nicht vom Zukunftsstaat die Rede sein. In dieser Zukunft gibt es keine Massen, keine Klassenunterdrückung und folglich auch kein Werkzeug dieser Unterdrückung, die Staatsgewalt. Der „klassenlose Staat“ – auf welchen Standpunkt sich die Sozialdemokraten verirren – ist ein Widerspruch in sich, ein Unsinn, ein Unfug, „trockenes Wasser“. Und wenn auch eine mit diesem trockenen Wässerchen begossene ideologische Rinde die geistige Nahrung der Sozialdemokratie bildet, tragen hieran die großen Revolutionäre Marx und Engels wahrlich keine Schuld.

Die kommunistische Gesellschaft ist somit eine staatenlose. Wenn dem so ist – und zweifelsohne ist dem so – worin besteht denn in Wirklichkeit der Unterschied zwischen Anarchisten und marxistischen Kommunisten? Verschwindet der Unterschied nicht zumindest in der Frage über die zukünftige Gesellschaft, über das „Endziel“?

Nein, der Unterschied ist vorhanden. Allerdings verläuft er sich in einer ganz anderen Richtung. Man kann ihn kurz formulieren als Unterschied zwischen der zentralisierten Produktion der Großbetriebe und der dezentralisierten Kleinproduktion.

Wir Kommunisten nehmen an, daß die zukünftige Gesellschaft uns nicht nur von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen befreit, sondern daß sie auch die größtmöglichste Unabhängigkeit des Menschen von der äußeren Natur herbeiführt, die „gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ auf das Mindestmaß herabsetzt, indem sie die gesellschaftlichen Produktivkräfte und die Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit auf ihre Höchststufe bringt.

Daher ist unser Ideal die zentralisierte und planmäßig organisierte Produktion der Großbetriebe, letzten Endes die Organisation der gesamten Weltwirtschaft. Die Anarchisten hingegen geben einem ganz anderen Typus der Verhältnisse den Vorzug: ihr Ideal sind kleine Kommunen, die nach dem Wesen ihrer Struktur keine Großwirtschaft betreiben können, die „Vereinbarungen“ miteinander treffen und durch ein Netz von freiwilligen Verträgen miteinander in Verbindung stehen. Es ist klar, daß ein derartiges System der Produktion wirtschaftlich dem mittelalterlichen Gemeinwesen ähnlicher ist wie einer Produktionsweise, welche die kapitalistische zu ersetzen berufen ist. Aber dieses System ist nicht nur reaktionär, es ist in hohem Maße utopisch. Die zukünftige Gesellschaft wird nicht aus dem „Nichts“ geboren, und kein Storch bringt sie vom Himmel. Sie wächst aus dem Schoße der alten Gesellschaft heraus, aus den durch den gigantischen Apparat des Finanzkapitals geschaffenen Verhältnissen. Jede zukünftige Ordnung ist nur dann lebensfähig und möglich, wenn sie die Produktivkräfte der bereits abgelebten Ordnung weiter entwickelt. Die weitere Entwicklung der Produktivkräfte ist selbstverständlich nur denkbar als eine Fortsetzung der Zentralisationstendellz des Produktionsprozesses, als eine sich steigernde Organisiertheit der „Verwaltung von Dingen“, die hier anstelle der abgelebten „Ordnung über Menschen“ tritt.

Indessen – werden uns die Anarchisten erwidern – das Wesen des Staates besteht doch gerade in der Zentralisation; indem Ihr die Zentralisation der Produktion beibehaltet, behaltet Ihr auch zugleich den staatlichen Apparat bei, die Macht, die Gewalt, die „autoritären Verhältnisse“.

Diese Erwiderung ist unrichtig, denn sie setzt eine durchaus unwissenschaftliche, ja eine geradezu kindliche Vorstellung vom Staat voraus. Der Staat ist, genau wie das Kapital nicht ein Ding, sondern ein Verhältnis zwischen den Menschen, genauer, ein Verhältnis zwischen den Klassen. Es ist das Klassenverhältnis der Herrschaft und Unterdrückung. Das „Wesen“ des Staates besteht eben in diesem Verhältnis. Wenn ein solches Verhältnis nicht mehr besteht, ist auch gar kein Staat vorhanden. Die Zentralisation als wesentlichstes Merkmal des Staates hinzustellen bedeutet dasselbe, wie die Produktionsmittel als Kapital zu betrachten. Die Produktionsmittel werden erst dann zu Kapital, wenn sie in der Hand einer Klasse monopolisiert werden und zur Ausbeutung einer anderen Klasse auf der Grundlage des Lohnsystems dienen, d.h. wenn diese Produktionsmittel das gesellschaftliche Verhältnis der Klassenunterdrückung und der wirtschaftlichen Klassenausbeutung bedeuten. Dahingegen sind die Produktionsmittel an und für sich prachtvolle Dinge, Werkzeuge des Kampfes des Menschen mit der Natur. Es ist daher begreiflich, daß sie in der zukünftigen Gesellschaft nicht nur nicht verschwinden, sondern den ihnen gebührenden Platz zum ersten Mal einnehmen werden.

Indessen gab es in der Arbeiterbewegung eine Epoche, wo die Arbeiter den Unterschied zwischen der Maschine als Produktionsmittel und der Maschine als Kapital, d.h. als Unterdrückungsmittel noch nicht erkannt hatten. In jener Zeit war der Sinn der Arbeiter nicht darauf gerichtet, das Privateigentum an den Maschinen zu beseitigen, sondern die Maschinen selbst zu vernichten und zu den primitiven Handwerkzeugen zurückzukehren.

Dasselbe trifft auch für den „klassenbewußten“ Anarchisten mit seiner Stellung zur Zentralisation der Produktion zu. Sie sehen, daß die Zentralisation in der kapitalistischen Ordnung als Mittel der Unterdrückung dient, und protestieren in ihrer Einfalt gegen jegliche Zentralisierung der Produktion überhaupt, sie verwechseln kindlicherweise das Wesen einer Sache mit ihrer gesellschaftlichen und historischen äußeren Form.

Es besteht somit in bezug auf die bürgerliche Gesellschaft zwischen uns Kommunisten und den Anarchisten durchaus nicht der Unterschied, daß wir für, sie aber gegen den Staat sind, sondern darin, daß wir für die zentralisierte Produktion der Großbetriebe sind, welche die Produktivkräfte bis zum Maximum entwickelt, sie aber für eine dezentralisierte Kleinproduktion, die das Niveau dieser Produktivkräfte nicht erhöht, sondern vermindert.

 

 

II

Die zweite wesentliche Frage, welche die Kommunisten von den Anarchisten trennt, ist die Frage der Stellung zur proletarischen Diktatur. Zwischen dem Kapitalismus und der „Zukunftsgesellschaft“ liegt eine ganze Periode von Klassenkämpfen, die Periode der Entwurzelung der Überreste der bürgerlichen Gesellschaft, der Zeitraum der Abwehr der Klassenattacken von seiten, der obschon gestürzten, aber sich immer noch. sträubenden Bourgeoisie. Die Praxis der Oktoberrevolution hat gezeigt, daß die Bourgeoisie, die man „auf beide Schultern gelegt hatte“, trotzdem den Überrest ihrer Kräfte zu bewaffnetem und jeglichem anderen Kampfe gegen die Arbeiter ausnützt; daß sie letzten Endes sich auf die internationale Reaktion stützt, und daß der Endsieg der Arbeiter nur dann möglich ist, wenn das Proletariat die ganze Welt von dem kapitalistischen Gesindel gesäubert, wenn es die Bourgeoisie überall vollständig erdrosselt haben wird.

Daher ist es auch ganz natürlich, daß das Proletariat für seinen Kampf eine Organisation braucht. Je breiter, je stärker, je fester gefügt diese Organisation ist, umso schneller wird der Endsieg errungen. Eine solche zeitweilige Organisation ist der proletarische Staat, die Herrschaftsgewalt der Arbeiter, ihre Diktatur.

Wie jegliche Herrschaft ist auch die proletarische Herrschaft eine Organisation der Gewalt. Wie jeglicher Staat ist auch der proletarische ein Werkzeug der Unterdrückung. Doch darf man die Frage der Gewalt nicht so formell behandeln. Das wäre der Gesichtspunkt eines guten Christen, Tolstojaners, nicht aber der eines Revolutionärs. Die Frage der Gewalt wird in bejahendem oder verneinendem Sinne je nachdem entschieden, gegen wen diese Gewalt angewandt wird. Revolution und Gegenrevolution sind in gleichem Maße Akte der Gewalt. Aus diesem Grunde jedoch von der Revolution Abstand zu nehmen, würde sinnlos sein.

Genau so steht es mit der Frage der Herrschaftsgewalt des Proletariats. Diese Gewalt ist ein Mittel zur Unterdrückung, doch ist sie gegen die Bourgeoisie gerichtet. Sie faßt ein System von Repressalien in sich, doch sind diese Repressalien wiederum gegen die Bourgeoisie gerichtet. Im Klassenkampf, in Momenten höchster Verschärfung dieses Kampfes, der in den Bürgerkrieg übergeht, dürfen nicht Reden von der Freiheit eines jeden Individuums gehalten werden, sondern Reden von der Notwendigkeit der planmäßigen Unterdrückung der Ausbeuterklassen.

Das Proletariat steht vor der Wahl: entweder es muß die gestürzte Bourgeoisie endgültig vernichten und sich vor ihren internationalen Verbündeten verteidigen oder nicht. Wenn es dies tun soll, dann muß es eine solche Arbeit organisiert planmäßig ausführen, sie überall dorthin ausdehnen, wo seine Kräfte dafür ausreichen. Da dies nun einmal so ist, benötigt das Proletariat um jeden Preis eine organisierte Macht. Eine solche Macht ist die Staatsgewalt des Proletariats.

Klassenunterschiede werden nicht mit einem Federstrich aus der Welt geschafft. Die Bourgeoisie verschwindet nicht als Masse, nachdem sie die politische Macht verloren hat. Ebenso ist das Proletariat geblieben auch nach seinem Siege. Aber es ist nun in die Lage der herrschenden Klasse übergegangen. Soli es sich in seiner Eigenschaft einer solchen, oder soll es sich sofort in der übrigen, ihm tief feindlichen Masse auflösen? So steht historisch die Frage. Und darauf kann es nicht zweierlei Antworten geben. Die einzige Antwort lautet: das Proletariat ist als treibende Kraft der Revolution verpflichtet, sich in seiner Eigenschaft als Herr solange zu halten, bis es die übrige Klasse nach seinem Ebenbild umgestaltet hat. Dann – erst dann – löst das Proletariat seine staatliche Organisation auf und der Staat „stirbt ab“.

In Bezug auf diese Übergangsperiode nehmen die Anarchisten eine andere Position ein, und hier geht der Unterschied zwischen ihnen und uns wirklich auf der Linie für oder gegen den proletarischen Kommune-Staat, für oder gegen die Diktatur des Proletariats.

Jede Herrschaft, die Herrschaft überhaupt ist für die Anarchisten unter allen und jeglichen Umständen unannehmbar, die die Bourgeoisie unterdrückt. So schreien im gegenwärtigen Stadium der Entwicklung der Revolution die Anarchisten zusammen mit der Bourgeoisie und den Kompromißlerparteien gegen die Herrschaft des Proletariats. Indem sie gegen die Herrschaft der Arbeiter schreien, sind sie nicht mehr die „Linken“, die „Radikalen“, als die sie gewöhnlich bezeichnet wurden. Im Gegenteil, daß sind schlechte Revolutionäre, die keinen organisierten und planmäßigen Massenkampf gegen die Bourgeoisie führen wollen. Durch ihren Verzicht auf die Diktatur des Proletariats begeben sie sich der stärksten Waffe im Kampfe; durch ihren Kampf gegen diese Diktatur desorganisieren sie die Kräfte des Proletariats, schlagen sie dem Proletariat das Gewehr aus der Hand, helfen objektiv der Bourgeoisie und den sozialverräterischen Agenten dieser Bourgeoisie.

Der Grundgedanke, der die Stellung der Anarchisten zu der Frage der zukünftigen Gesellschaft mit ihrer Stellung zur Diktatur des Proletariats verbindet, läßt sich leicht verfolgen. Das ist ihr sozusagen prinzipieller Widerwillen gegen die Methoden von planmäßigen und organisierten Massenaktionen.

In unseren (d.h. sowjetrussischen) Verhältnissen ist die anarchistisch Lösung der Frage äußerst schädlich. Der konsequente Anarchist muß gegen die Sowjetgewalt sein und diese Sowjetgewalt zu zerstören trachten Angesichts der offenbaren Unsinnigkeit eines solchen Standpunktes für Arbeiter und Bauern wagen nicht viele diese Konsequenz aus ihren eigener Voraussetzungen zu ziehen, ja, der eine oder der andere Anarchist sitzt ganz vergnügt im obersten gesetzgebenden und ausführenden Organ der Staatsgewalt des Proletariats – im Zentral-Exekutiv-Ausschuß der Sowjets. Das ist offensichtlich eine Inkonsequenz und die Preisgabe der reiner anarchistischen Stellung. Jedoch kann selbstverständlich der Anarchist keine besondere Liebe für die Sowjets hegen, er „nützt“ sie bestenfalls nur „aus“, er ist stets bereit, sie zu desorganisieren. Darum ist es ganz natürlich, daß sich hier eine äußerst schroffe praktische Differenz ergeben muß, weil wir unsere Hauptaufgabe jetzt darin sehen, die Herrschaft der proletarischen Massenverbände – der Arbeiter-Räte – auf eine breitere Basis zu stellen, zu festigen und zu organisieren, während die Anarchisten diesen Aufbau bewußt hemmen müssen.

Ebenso schroff trennen sich unsere Wege auch auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Praxis in der Epoche der proletarischen Diktatur. Die Grundbedingung für die wirtschaftliche Überwindung des Kapitalismus besteht darin, daß die „Expropriation der Expropriateure“ nicht in eine Teilung ausarte, sei es auch eine gleichmäßige Teilung. Jede Teilung züchtet Kleineigentümer, aus dem Meinen Eigentum aber ergibt sich auch das großkapitalistische Eigentum. Darum führt die Aufteilung der Besitztümer der Reichen notwendig zu einer Neubildung derselben Klasse dieser „Reichen“. Die Aufgabe der Arbeiterklasse besteht nicht in einer kleinbürgerlichlumpenproletarischen Aufteilung, sondern in der planmäßigen organisierten gesellschaftlich-genossenschaftlichen Ausnutzung der zu expropriierenden Produktionsmittel.

Dies wiederum ist nur dann möglich, wenn sogar der Akt der Expropriation schon organisiert durchgeführt wird bei einer Kontrolle seitens der Arbeiterinstitutionen. Andernfalls nimmt die „Expropriation“ einen offenbar desorganisatorischen Charakter an und artet leicht in eine einfache „Aneignung“ durch Privatpersonen aus, was gesellschaftliches Eigentum sein muß.

Die russische Gesellschaft, namentlich die russische Industrie und die russische Landwirtschaft befinden sich im Prozeß einer schrecklichen Zerrüttung und Zerfalls. Nicht nur die offenbare Zerstörung der Produktivkräfte, sondern auch die kolossale Desorganisation des ganzen Wirtschaftsapparates ist die Ursache qualvoller Schwierigkeiten. Darum müssen die Arbeiter jetzt mehr denn je für eine genaue Bestandsaufnahme und Kontrolle aller expropriierten Produktionsmittel, Häuser, requirierten Produkte des Verbrauchs usw. Sorge tragen. Eine derartige Kontrolle ist nur dann möglich, wenn die Expropriation nicht durch Privatpersonen und nicht durch private Gruppen ausgeführt wird, sondern durch die Organe der Arbeitergewalt.

 

 

III

Wir haben absichtlich nicht mit den Anarchisten polemisiert, als seien sie kriminelle Verbrecher, Banditen usw. Für Arbeiter ist wichtig, die schädlichen Seiten ihrer Lehre zu verstehen, aus der auch die schädliche Praxis resultiert.

Der Schwerpunkt der Argumentation darf nicht in einer derartigen oberflächlichen Polemik liegen.

Nach allem bisher gesagten ist es verständlich, warum es gerade die anarchistischen Gruppen sind, die schnell zu Gruppen von „Expropriateuren“ in ihre eigene Tasche ausarten, warum das Verbrechertum sich an die Anarchisten heranmacht. Stets und überall finden sich schmutzige Elemente, die die Revolution zu Zwecken persönlicher Bereicherung ausnützen. Dort aber, wo die Sache der Expropriation der Expropriateure unter die Kontrolle von Massenorganisationen gestellt ist, da ist es schwieriger im Trüben zu fischen.

Dahingegen schafft die prinzipielle Weigerung, sich an organisierten Massenaktionen zu beteiligen und ihr Ersatz durch „Aktionen“ von „freien“, „sich selbst bestimmenden“, „autonomen und unabhängigen“ Gruppen die beste Kulisse für solche „Expropriationen“, die sich weder theoretisch noch praktisch von den Taten gewöhnlicher Wegelagerer unterscheiden.

Die Schattenseite der individuellen Expropriationen, Beschlagnahmungen usw. besteht nicht nur darin, daß sie die Arbeit der Instandsetzung des planmäßigen Apparates der Produktion, Verteilung und Leitung stören, sondern sie besteht auch darin, daß diese Akte die Menschen selbst, von denen sie ausgeführt werden, von Grund auf demoralisieren und deklassieren, sie der kameradschaftlichen gemeinsamen Arbeit und der Förderung der kollektiven Willens entwöhnen und an ihre Stelle die Willkür einer einzelnen Gruppe oder gar eines einzelnen „freien Individiums“ setzen.

Die Arbeiter-Revolution weist zwei Seiten auf: die zerstörende und die schöpferisch-aufbauende. Die zerstörende Seite kommt in erster Linie im Sturz des bürgerlichen Staates zum Ausdruck. Wohl behaupten die sozialdemokratischen Opportunisten, die Eroberung der Macht durch das Proletariat bedeute bei weitem noch nicht die Zerstörung des kapitalistischen Staates. Eine solche „Eroberung“ existiert jedoch nur in den Köpfen von Einzelpersonen. In Wirklichkeit geht die Eroberung der Macht durch die Arbeiter über die Zerstörung der Macht der Bourgeoisie.

In diesem Zerstörungswerk gegen den bürgerlichen Staat können die Anarchisten eine positive Rolle spielen. Doch sind sie organisch unfähig, eine „neue Welt“ zu schaffen. Und nach der Eroberung der Macht durch das Proletariat, wenn das Schwergewicht auf den Aufbau des Sozialismus verlegt wird, spielen die Anarchisten eine fast ausschließlich negative Rolle, indem sie diesen Aufbau durch ihre wilden desorganisatorischen Aktionen stören.

Kommunismus und kommunistische Revolution – das ist Sache des Proletariats, der produktiv tätigen, durch den Mechanismus der Großproduktion zusammengeschweißten Klasse. Alle übrigen Schichten der Armut können die Rolle von Agenten der kommunistischen Revolution nur soweit spielen, als sie dem Proletariat Gefolgschaft leisten.

Der Anarchismus ist nicht die Ideologie des Proletariats, sondern die Ideologie von deklassierten, produktiv nicht tätigen Gruppen, die sich von jeder produktiven Arbeit losgerissen haben: das Lumpenproletariat, das sich aus Proletariern, ruinierten Kleinbürgern, gesunkenen Intellektuellen, aus dem Gleise geworfenen und verarmten Bauern rekrutiert, mit einem Wort aus Habenichtsen. Irgend etwas Neues zu schaffen vermögen sie bereits nicht mehr, sie sind bereits nicht mehr fähig, neue Werte zu produzieren, sie sind nur noch fähig, das auf dem Wege von „Beschlagnahmen“ Erbeutete zu verbrauchen. Das ist die soziale Grundlage des Anarchismus. Anarchismus – das ist das Produkt der Zersetzung der kapitalistischen Gesellschaft. Die Eigenart dieser Zersetzung besteht in dem Zerfall der sozialen Bande, in der Verwandlung früherer Mitglieder irgend einer Klasse in atomisierte „Individuen“, die von keiner Klasse mehr abhängig sind, die für „sich selbst“ existieren, nicht arbeiten und die sich in Anbetracht ihrer separaten Existenz keiner Organisation unterordnen. Es ist Menschenstaub, den das barbarische Regime des Kapitals hervorbringt.

Eine gesunde Klasse, die Klasse der Proletarier, kann deshalb vom Anarchismus nicht angesteckt werden. Nur in den Verhältnissen des Zerfalls der Arbeiterklasse selbst taucht gleichzeitig mit ihr auf einem seiner Pole der Anarchismus als Symptom der Krankheit auf. Und die Arbeiterklasse, die gegen ihre ökonomische Zersetzung ringen muß, muß auch gegen ihre ideologische Zersetzung ringen, dessen Produkt der Anarchismus ist.

 


Zuletzt aktualisiert am 24.8.2003