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Internationaler Sozialistenkongress in Wien (23. bis 29. August 1914)
2. Kommission: Die Teuerung – Bericht von Otto Bauer.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die Teuerung ist eine internationale Erscheinung. Sind die Weltmarktpreise von 1874 bis 1895 gesunken, so hat 1896 in der ganzen kapitalistischen Welt die Steigerung der Preise begonnen und seither angehalten. Setzen wir die Lebensmittelpreise im Jahre 1900 gleich 100, so betrugen sie in den Jahren [1]:
|
1905 |
1908 |
1910 |
1911 |
1912 |
---|---|---|---|---|---|
Australien |
101 |
106 |
103 |
103 |
116 |
Belgien |
110 |
116 |
122 |
128 |
132 |
Deutsches Reich |
108 |
112 |
117 |
118 |
123 |
Frankreich |
107 |
115 |
114 |
121 |
123 |
Großbritannien |
103 |
108 |
109 |
109 |
115 |
Italien |
100 |
106 |
112 |
114 |
111 |
Japan |
132 |
136 |
132 |
138 |
— |
Kanada |
111 |
129 |
135 |
136 |
151 |
Niederlande |
102 |
107 |
115 |
117 |
123 |
Norwegen |
100 |
109 |
108 |
111 |
119 |
Österreich |
108 |
118 |
126 |
128 |
135 |
Rußland |
112 |
130 |
116 |
121 |
— |
Spanien |
109 |
103 |
— |
— |
— |
Vereinigte Staaten |
113 |
126 |
140 |
139 |
150 |
Die Zahlen sind nicht durchweg miteinander vergleichbar, da sie auf Grund verschiedener Methoden ermittelt sind. Immerhin genügen sie, die folgenden Tatsachen anschaulich zu machen:
In der Bewegung der Warenpreise spiegelt sich zunächst das Tempo der kapitalistischen Entwicklung.
Als in den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhunderts die kalifornischen und australischen Goldfunde, die großen Eisenbahnbauten, die Entwicklung der Dampfschiffahrt jene gewaltige Entfaltung des kapitalistischen Wirtschaftslebens herbeiführten, die erst in der Krise von 1873 ihr jähes Ende fand, war diese Sturm- und Drangperiode des Kapitalismus begleitet von einer schnellen Steigerung der Warenpreise. Die langsamere Entwicklung der Industrie in den Siebzigerund Achtzigerjahren fiel mit sinkenden Weltmarktpreisen zusammen. Im Jahre 1895 erreichte die Indexziffer des Economist ihren Tiefpunkt. Seit der Mitte der Neunzigerjahre aber leben wir in einer neuen Sturm- und Drangperiode des Kapitalismus, die neuerlich von einer Steigerung der Warenpreise begleitet ist.
Die schnellere Entwicklung des Kapitalismus in den letzten zwei Jahrzehnten hat mannigfache Ursachen.
Zunächst ist die Entwicklung der Technik in den letzten Jahrzehnten überaus schnell fortgeschritten.
Vor allem wurden die Methoden der Kraftgewinnung verbessert. Die Verwendung überhitzten Dampfes in der Kolbendampfmaschine, die Dampfturbine, der Diesel-Motor, die Großgasmaschinen sind Errungenschaften der letzten zwei Jahrzehnte. Die selbsttätige Schmierung und selbsttätige Feuerung senkten die Bedienungskosten.
Auf der Frankfurter Elektrizitätsausstellung von 1891 wurde zum erstenmal die Übertragung von Starkströmen auf große Entfernung demonstriert. Seit der Mitte der Neunzigerjahre beginnt der Elektromotor den Wasserdruck aus dem Betrieb der Fahrstuhlanlagen auszuschliessen, und er erweist sich im Betrieb von Kranen und Lastwinden dem Dampfbetrieb überlegen. In den industriellen Betrieben werden die älteren Methoden der Kraftverteilung durch Wellenleitungen, Dampfleitungen, Druckwasser und Druckluft durch die Kraftverteilung mittels elektrischer Leitungen verdrängt. Die Wasserkräfte finden neue Verwendung. Überlandzentralen versorgen weite Gebiete mit elektrischer Kraft.
Hand in Hand mit der Verbesserung der Methoden der Kraftgewinnung und der Kraftverteilung geht die Vervollkommnung der Stoffgewinnung. Im Bergbau wurde die Verwendung der Naturkräfte zur Raumüberwindung vervollkommt. Ähnliche Fortschritte in der Eisenindustrie. Die chemischen Verfahren der Roheisen- und Flußeisengewinnung können dank der Verbesserung der maschinentechnischen Hilfsmittel, vor allem der Förderungsmaschinen aller Art, mit größerer Wirtschaftlichkeit angewendet werden. Zugleich aber werden diese chemischen Verfahren selbst verbessert. Es gelingt, das dem Hochofen entnommene Roheisen ohne neue Wärmezufuhr zu Flußeisen oder Flußstahl zu verarbeiten und die daraus gegossenen Blöcke wieder ohne Wärmezufuhr zu verwalzen. Es werden daher Stahl- und Walzwerke unmittelbar an die Hochöfen angebaut, zugleich wird durch Verwertung der Hochofengase im Gichtgasmotor die Kraftgewinnung verbilligt. Gewaltig ist der Fortschritt der chemischen Industrie in dem letzten Vierteljahrhundert, vor allem der Farbstoff- und der Stickstoffindustrien.
Noch auffallender ist der Fortschritt auf dem Gebiete der Metallbearbeitung. Die Fräsmaschinen, die Revolverdrehbank, die verschiedenartigsten Automaten, die autogenen Schweiß- und Schneideverfahren haben ihr Bild vollständig verändert. Dank der Verwendung der legierten Qualitätsstähle im Maschinenbau konnte die Geschwindigkeit der Maschinen bedeutend erhöht werden: die Schnelldrehbänke, die Hochleistungsbohrmaschinen zeigen bei gleichem Kraftverbrauch gewaltige Steigerung der Leistung.
Vollständig revolutioniert wurde das Verkehrswesen. Die Elektrifizierung der Straßenbahnen, der Bau elektrischer Vollbahnen, das Automobil, die Umwälzung des Schiffbaues durch die Dampfturbine, die große Schiffsdiesel, die Verlängerung der Frachtdampfer, der Ausbau des inter-urbanen Telephonnetzes, die drahtlose Telegraphie sind Ergebnisse der Entwicklung der Technik im letzten Vierteljahrhundert. Nicht minder groß ist die Umwälzung auf dem Gebiete des Häuser- und Städtebaues. Die Verwendung des armierten Betons, der Einbau von Zentralheizungsanlagen und Badezimmern, die Umwälzung in der Beleuchtungstechnik kennzeichnen die jüngste Entwicklung.
Diese Beispiele genügen, die Schnelligkeit des technischen Fortschritts in den letzten zwei Jahrzehnten anschaulich zu machen. Es gibt kaum einen Industriezweig, dem das letzte Vierteljahrhundert nicht neue Methoden, neue Arbeitsmaschinen gebracht hätte.
Dieser technische Fortschritt war begleitet von einer ebenso schnellen Vervollkommnung der öffentlichen Gesundheitspflege. Die Sterblichkeit ist gesunken. Die durchschnittliche Lebensdauer ist verlängert. Wo diese Entwicklung nicht durch den Rückgang der Geburtenzahl überkompensiert wurde, ist eine schnelle Vermehrung der Bevölkerung eingetreten. So entfielen im Deutschen Reiche auf je 1000 Einwohner:
|
Todesfälle |
Mehr Geburten |
---|---|---|
1881 bis 1890 |
26,5 |
11,7 |
1891 bis 1900 |
23,5 |
13,9 |
1901 bis 1910 |
19,7 |
14,3 |
Die Bevölkerung des Deutschen Reiches vermehrte sich in den dreissig Jahren von 45 auf 65 Millionen.
Noch schneller vollzog sich die Bevölkerungsvermehrung in den Ländern, die grosse Massen von Einwanderern an sich zu ziehen vermochten. So betrug die Bevölkerung der Vereinigten Staaten:
|
|
Millionen |
|
|
|
Millionen |
1880 |
50,1 |
1900 |
75,9 |
|||
---|---|---|---|---|---|---|
1890 |
62,8 |
1910 |
91,9 |
An der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte hatten die Länder mit starker Bevölkerungsvermehrung, so vor allen das Deutsche Reich, die Vereinigten Staaten, Japan, den stärksten Anteil.
Zugleich hat sich auch die Expansion des Kapitalismus schnell vollzogen. Das wichtigste Mittel und Anzeichen dieser Expansion ist die Verdichtung der Verkehrswege. Die Länge der im Betrieb befindlichen Eisenbahnen betrug:
|
1891 |
1911 |
---|---|---|
Kilometer |
||
Europa |
223.869 |
338.880 |
Amerika |
331.417 |
541.028 |
Asien |
33.724 |
105.011 |
Afrika |
9.386 |
40.489 |
Australien |
18.889 |
32.401 |
Zusammen |
617.285 |
1.057.809 |
In zwei Jahrzehnten wurde das Schienennetz der Welt um 71 Prozent verlängert, und zwar in den überseeischen Ländern weit schneller als in Europa.
Durch die Expansion in die überseeischen Länder erschließt der europäische und amerikanische Kapitalismus seinem Kapital immer neue Anlage- und Absatzgebiete. Wie schnell der Absatz seiner Waren in den überseeischen Ländern steigt, zeigt die Steigerung ihrer Wareneinfuhr. Die Einfuhr betrug dem Wert nach:
|
1893 |
1912 |
---|---|---|
in Millionen Mark |
||
Algerien |
194,3 |
534,5 |
Tunesien |
31,1 |
99,2 |
Britisch-Südafrika |
282,0 |
825,9 |
Britisch-Indien |
1000,5 |
2086,3 |
Straits-Settlements |
372,5 |
1066,5 |
Kanada |
541,8 |
2236,2 |
Australischer Bund |
485,5 |
1326,3 |
Ägypten |
180,9 |
537,6 |
Argentinien |
389,7 |
1558,7 |
Mexiko |
182,3 |
383,6 |
China |
616,4 |
1327,1 |
Japan |
228,6 |
1299,9 |
Die Einfuhr Brasiliens ist von 613 Millionen Mark im Jahre 1895 auf 1302,3 Millionen Mark im Jahre 1912, die Einfuhr Koreas von 28,3 Millionen Mark im Jahre 1902 auf 83,8 Millionen im Jahre 1910, die Einfuhr Persiens von 94,5 Millionen Mark im Jahre 1901 auf 181,7 Millionen im Jahre 1912 gestiegen. Wir sehen also in allen Gebieten, die der europäische und amerikanische Kapitalismus mittelbar oder unmittelbar seiner Herrschaft unterworfen hat, eine ungeheuere Steigerung der Einfuhr. Das Absatzgebiet des Kapitals dehnt sich immer weiter.
Endlich wird das Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung auch noch durch die Steigerung der Goldproduktion beschleunigt. Die Goldgewinnung betrug:
|
|
Kilogramm |
Jahresdurchschnitt 1886 bis 1890 |
169.869 |
|
Jahresdurchschnitt 1891 bis 1895 |
245.170 |
|
Jahresdurchschnitt 1896 bis 1900 |
387.257 |
|
Jahresdurchschnitt 1901 bis 1905 |
484.639 |
|
Jahresdurchschnitt 1906 bis 1910 |
652.166 |
|
Jahr 1911 |
692.000 |
|
Jahr 1912 |
707.000 |
Die gewaltige technische Umwälzung, die schnelle Bevölkerungsvermehrung, die beschleunigte Expansion des Kapitalismus und die gesteigerte Goldproduktion — das sind wohl die wichtigsten Ursachen der beschleunigten wirtschaftlichen Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte.
Die schnelle Entwicklung der Industrie hat den Verbrauch an Rohstoffen ungeheuerlich vermehrt. Das zeigen folgende Beispiele:
|
|
Kohlengewinnung |
|
Roheisengewinnung |
||
---|---|---|---|---|---|---|
in 1000 metrischen Tonnen |
||||||
1892 |
1912 |
|
1892 |
1912 |
||
Deutsches Reich |
92.544 |
259.435 |
4.937 |
17.853 |
||
Frankreich |
26.178 |
41.308 |
2.057 |
4.872 |
||
Großbritannien |
184.704 |
264.749 |
6.817 |
10.033 |
||
Österreich-Ungarn |
29.038 |
51.527 |
944 |
2.785 |
||
Rußland |
6.946 |
26.636 |
1.072 |
3.588 |
||
Vereinigte Staaten |
162.685 |
450.165 |
9.304 |
30.203 |
Die Arbeiterklasse hat die günstige Konjunktur der letzten Jahrzehnte ausgenützt. Durch die Kraft ihrer Gewerkschaften hat sie sich höhere Löhne erobert. Die Naturalwirtschaft auf dem Lande wird schnell durch die Geldwirtschaft verdrängt; das Landvolk erscheint auf dem Markte als Käufer von Waren, die es früher selbst erzeugt hat. Die Erhöhung des allgemeinen Bildungsniveaus weckt in den Volksmassen neue Bedürfnisse. Die Nachfrage nach Lebensmitteln, nach Wohnungen, nach allen Gegenständen des Massenverbrauches steigt schnell.
So hat die stürmische Entwicklung der Industrie in den letzten Jahrzehnten sowohl den Bedarf nach industriellen Rohstoffen als auch die Nachfrage nach allen Gegenständen des Massenkonsums schnell vermehrt. Aber die Entwicklung der Landwirtschaft vermochte mit der Entwicklung der Industrie nicht gleichen Schritt zu halten. Die Landwirtschaft konnte ihre Produktion teils überhaupt nicht, teils nur bei steigenden Produktionskosten so schnell ausdehnen, wie der Bedarf der Industrie nach ihren Erzeugnissen stieg. Dieses Mißverhältnis ist eine der Ursachen der Teuerung.
An dem technischen Fortschritt der letzten zwei Jahrzehnte hat auch die Landwirtschaft ihren Teil. Die Verbesserung des landwirtschaftlichen Maschinenwesens, die Verwendung des Kunstdüngers, die Vervollkommnung der Zucht und der Fruchtfolge, die engere Verknüpfung der Landwirtschaft mit der Industrie haben die Erträgnisse des Ackerbaus und der Viehzucht erhöht.
Trotzdem ist die Landwirtschaft der west- und mitteleuropäischen Staaten längst nicht mehr imstande, den Lebensmittelbedarf dieser Länder zu decken. In den Industriestaaten vollzieht sich unablässig die Verschiebung der Bevölkerung von der Landwirtschaft zur Industrie. In fast allen diesen Ländern geht der Anteil der Landwirtschaft an der Gesamtbevölkerung schnell und stetig zurück. Von je 100 Erwerbstätigen gehörten zur Land- und Forstwirtschaft:
|
Von 100 Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt |
|||
---|---|---|---|---|
Im Jahre |
|
Im Jahre |
|
|
Belgien |
1890 |
22,9 |
1900 |
21,1 |
Deutsches Reich |
1895 |
37,5 |
1907 |
35,2 |
Großbritannien |
1891 |
15,0 |
1901 |
12,7 |
Niederlande |
1889 |
32,7 |
1899 |
30,7 |
Norwegen |
1891 |
49,6 |
1900 |
41,0 |
Österreich |
1890 |
64,4 |
1900 |
60,9 |
Schweden |
1890 |
54,0 |
1900 |
49,8 |
Schweiz |
1888 |
37,4 |
1900 |
30,9 |
Ungarn |
1890 |
71,0 |
1900 |
69,7 |
Die Zahlen der verschiedenen Staaten sind nicht miteinander vergleichbar, da sie auf Grund verschiedener Methoden gewonnen sind. Innerhalb jedes Landes lassen sie jedoch den Rückgang des Anteils der Landwirtschaft an der erwerbstätigen Gesamtbevölkerung erkennen. Nur in Italien und in Dänemark ist eine Erhöhung des Anteils der Landwirtschaft an der Gesamtbevölkerung eingetreten. In Frankreich weist zwar die Zählung von 1906 der Landwirtschaft 42,7 Prozent der Erwerbstätigen zu gegen 41,8 Prozent im Jahre 1901; dies ist jedoch nur auf eine genauere Erfassung der mithelfenden Familienmitglieder zurückzuführen.
Die Bevölkeruug der Städte und Industriegebiete wächst weit schneller als die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung. Diese vermag trotz der Steigerung der Produktivität ihrer Arbeit den Bedarf der industriellen Volksmasse nach Erzeugnissen der Landwirtschaft und der Viehzucht nicht mehr zu decken. Die west- und mitteleuropäischen Industriestaaten müssen daher einen wachsenden Teil der Lebensmittel' und Rohstoffe, die sie brauchen, aus dem Auslande einführen.
Länder, die vor kurzem noch Lebensmittel ins Ausland ausgeführt haben, sind jetzt selbst auf die Einfuhr aus dem Auslande angewiesen. So Österreich-Ungarn. Wie es von der Getreideausfuhr zur Getreideeinfuhr übergehen muss, zeigen folgende Zahlen:
|
Getreideeinfuhr |
Getreideausfuhr |
---|---|---|
Im Jahre |
in Millionen Kronen |
|
1892 |
11.8 |
107.6 |
1902 |
33.2 |
78.9 |
1910 |
75.3 |
39.9 |
1911 |
88.1 |
23.3 |
1912 |
122.0 |
47.0 |
Zur Deckung des Einfuhrbedarfes der west- und mitteleuropäischen Industriestaaten sind zunächst die osteuropäischen Agrarländer berufen. Die Natur hat diesen Ländern fruchtbaren Boden gegeben, dessen Erträgnisse Europa sicherlich ernähren könnten. Aber die sozialen Verhältnisse erlauben die Ausnützung ihrer Bodenschätze nicht. Die Bebauung des Bodens ist armen, unwissenden Menschen anvertraut, deren Betrieb zu klein, deren Bildung zu gering, deren Denkweise zu konservativ ist, als dass sie Ackerbau und Viehzucht rationell zu betreiben vermöchten. Wie rückständig die osteuropäische Landwirtschaft ist, zeigt der Vergleich ihrer Hektarerträge mit denen west- und mitteleuropäischer Länder. Ein Hektar Weizenboden trug im Jahre 1911/12:
West- und Mitteleuropa: |
|
Osteuropa: |
||
---|---|---|---|---|
|
Meterzentner |
Meterzentner |
||
Belgien |
26,6 |
Bosnien |
8,7 |
|
Böhmen |
22,0 |
Bulgarien |
11,8 |
|
Deutsches Reich |
22,6 |
Galizien |
13,4 |
|
Großbritannien |
19,5 |
Rumänien |
11,8 |
|
Irland |
23,4 |
Rußland |
6,9 |
|
Niederlande |
26,3 |
Serbien |
9,0 |
|
Schweden |
22,0 |
Ungarn |
12,7 |
Die größte Bedeutung für die Lebensmittelversorgung Europas hat die Entwicklung der russischen Landwirtschaft. Ist doch die landwirtschaftlich genutzte Fläche des europäischen Rußland größer als die aller anderen Staaten Europas zusammen! Die Grundlagen der russischen Landwirtschaft wurden durch den ungeheuerlichen Raub an den Bauern geschaffen, der durch die zarische "Bauernbefreiung" von 1861 begangen wurde. Im Reichsdurchschnitt erhielten die "befreiten" Gutsbauern nicht mehr als 3,2 Dessjatinen Land (eine Dessjatine = 1,09 Hektar). In den folgenden vier Jahrzehnten ist zwar das Bauernland durch Kauf und Pachtung um etwa 20 Prozent gewachsen, zugleich aber hat sich seine Bevölkerung von 45 auf 85 Millionen vermehrt. Die Enge des Bauernlandes hat zu ungeheuerlicher Vergeudung der Natur- und der Arbeitskräfte geführt.
Die Bauern waren gezwungen, möglichst viel Land unter den Pflug zu nehmen, um die wachsende Menschenmasse auf dem engen Boden mit Getreide zu versorgen.
Die Brache wurde eingeengt. Die dem Boden entzogenen Nährstoffe werden ihm nicht wiedergegeben. Daher Erschöpfung des Bodens. Sie wurde noch beschleunigt durch unzulängliche Düngung. Bei der "Bauernbefreiung" haben die Bauern zu wenig Weiden und Wiesen bekommen. Seither ist die Viehhaltung ständig zurückgegangen. Auf 1000 Dessjatinen Bauernlandes entfielen 1880 655 Stück Arbeitsvieh, 1890: 631, 1900:602. Einengung der Brache und Verringerung der Düngung bewirkten Raubbau an dem Boden. Im Durchschnitt der Neunzigerjahre blieb der Ertrag des Anteillandes um 17 Prozent hinter dem Lebensmittelbedarf der Bauern zurück, wenn man diesen mit 19 Pud auf den Kopf annimmt. (Ein Pud = 16,38 Kilogramm) [2].
Mit den Bodenkräften wurden auch die Arbeitskräfte vergeudet. Die wachsende Bevölkerung konnte auf dem Bauernlande ihre Arbeitskraft nicht verwerten. Nach amtlicher Angabe wären für die Ernte auf dem Bauernlande im Jahre 1900 11 Millionen Arbeitskräfte erforderlich gewesen, während 44 Millionen Arbeitskräfte verfügbar waren!
Die Intensivierung der Landwirtschaft wurde gehemmt durch die Abhängigkeit des Bauern vom Mir, durch die Zerstückelung des Bodens in eine Unzahl winziger, im Gemenge liegender Parzellen, durch die Solidarhaftung der Feldgemeinschaft für die drückenden Steuern, durch die zarische Gesetzgebung von 1893, die dem Bauern den Hypothekarkredit sperrte, dadurch alle Meliorationen unmöglich machte und die Bauern dem Wucher auslieferte, vor allem aber durch Kleinheit des Bauernlandes, durch die Armut seiner Bebauer und durch die geringen technischen Kenntnisse der von der zarischen Regierung in Unwissenheit und Kulturlosigkeit erhaltenen Bauernschaft.
Ob die Agrarreformen, zu denen sich die russische Regierung unter dem Drucke der Revolution entschlossen hat, diese Mißstände mildern werden, muß abgewartet werden. Bisher war die russische Landwirtschaft jedenfalls nicht imstande, den Bedarf der west- und mitteleuropäischen Industrie zu decken. Das zarische Regierungssystem verhinderte die Ausnützung der reichen Naturschätze Osteuropas. Europa blieb daher auf die Lebensmittelzufuhr aus überseeischen Ländern, vor allem aus Amerika, angewiesen.
Die Bevölkerung der Vereinigten Staaten ist in den letzten zehn Jahren um 16 Millionen Menschen gewachsen. Aber nur ein kleiner Teil des Zuwachses ist der Landwirtschaft zugefallen; der größte Teil der Einwanderer hat sich der Industrie und dem Bergbau, dem Handel und dem Verkehrswesen zugewendet. Von 1900 bis 1910 wuchs die Bevölkerung der Städte um 11,8 Millionen, die Landbevölkerung nur um 4,1 Millionen Köpfe. Während die Gesamtbevölkerung um 21 Prozent wuchs, ist die Zahl der Farmen nur um 10,9 Prozent, das gesamte Farmland um 4,8 Prozent, die kultivierte Fläche innerhalb der Farmen um 15,4 Prozent gewachsen. Bis zum Jahre 1900 ist die Zahl der Farmen und die Ausdehnung des Farmlandes schneller gestiegen als die Bevölkerung; jetzt bleibt das Wachstum der Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe und die Ausdehnung ihrer Fläche hinter dem Wachstum der Bevölkerung weit zurück. [3] Die mächtig anschwellende amerikanische Industrie hat die Landwirtschaft im Konkurrenzkampf um die Arbeitskräfte geschlagen.
Nach den Angaben des Landwirtschaftsdepartements ist das gesamte kulturfähige Land bereits in Besitz genommen, kulturfähiges herrenloses Land ist nicht mehr vorhanden. Allerdings ist ein großer Teil des okkupierten Landes noch "unimproved", noch nicht kultiviert. Aber seine Kultivierung erfolgt mit wachsenden Kosten.
Schon auf dem alten, bereits kultivierten Boden erfordert der Ackerbau höheren Kostenaufwand. Die Löhne sind infolge der Leutenot gestiegen. Die Landwirte müssen durch größere Kapitalsintensität (Vervollkommnung der Maschinen, erhöhten Verbrauch von Kunst- und Handelsdünger u.s.w.) dem Boden höhere Erträge abzugewinnen suchen. Außerdem zwingt die Erschöpfung der Ackerländereien in den Oststaaten zu verbesserter Fruchtfolge. Während das Wachstum des amerikanischen Ackerbaues in die Breite stockt, erfordert auf dem alten Boden Intensivierung der Produktion steigende Produktionskosten.
Zugleich verschiebt sich das Verhältnis zwischen dem Ackerbau und der Viehzucht. In den weiten Steppengebieten der Weststaaten herrschte bisher die Weidewirtschaft. Die Rinder wurden auf den Steppenweiden bis zum Alter von 2 bis 3 Jahren gehalten, dann nach dem Osten gebracht und dort, in den Maisgebieten, gemästet. Jetzt aber dringt der Ackerbau nach dem Westen vor Bewässerungswirtschaft und Trockenfarmerei (Dry Farming) machen Ackerbau auf dem Steppenboden möglich. Wo der Boden eingehegt wird und die Wasserstellen von den Ansiedlern benützt werden, muß die wilde Viehhaltung aufhören. Die Einschränkung der Weidegebiete führt teils zur Einschränkung der Viehhaltung überhaupt, teils zur Ersetzung der extensiven Steppenweidewirtschaft durch intensivere Viehzucht mit Stallhaltung und Winterfütterung, also mit bedeutend höheren Aufzuchtkosten.
Der Rückgang der Steppenviehzucht hat zur Folge, daß die Viehmäster im Maisgürtel sich nicht mehr die erforderliche Zahl mastfähiger Steppenrinder zu wohlfeilem Preise beschaffen können. Die Oststaaten sehen sich daher gezwungen, sich das Mastvieh selbst aufzuziehen. Um sich die dazu erforderlichen Grasländereien zu beschaffen, schränken sie den Getreidebau ein.
Die Ergebnisse dieser Verschiebungen innerhalb der Landwirtschaft sind die folgenden:
1. Die mit Getreide angebaute Fläche wächst nicht beträchtlich. Zwar dringt der Ackerbau nach dem Westen vor, aber dafür tritt in weiten Gebieten des Ostens Einschränkung des Weizen- und Maisbaues zugunsten des Futteranbaues ein. Da gleichzeitig der eigene Getreidebedarf der Vereinigten Staaten infolge ihres ungeheuren Bevölkerungswachstums schnell steigt, erübrigen sie immer weniger Getreide für die Ausfuhr. Diese Tatsache zeigen folgende Zahlen:
|
|
Weizenernte |
|
Weizenausfuhr |
---|---|---|---|---|
in 1000 metrischen Tonnen |
||||
1901 |
15.419 |
|
6.397 |
|
1902 |
22.099 |
6.933 |
||
1903 |
19.785 |
6.028 |
||
1904 |
18.832 |
3.570 |
||
1905 |
16.310 |
1.319 |
||
1906 |
20.461 |
2.883 |
||
1907 |
16.803 |
4.349 |
||
1908 |
21.709 |
4.823 |
||
1909 |
20.177 |
3.374 |
||
1910 |
18.753 |
1.382 |
Während im Jahre 1901 41 Prozent, im Jahre 1902 31 Prozent der Ernte ausgeführt werden konnten, waren im Jahre 1909 nur noch 17 Prozent, im Jahre 1910 gar nur 7 Prozent der Ernte für die Ausfuhr verfügbar. Die Vereinigten Staaten, einst die Kornkammer der Welt, sind zum großen Industriestaat geworden, der einen wachsenden Teil der Ernte zur Ernährung der eigenen Bevölkerung braucht. Waren die großen Getreideüberschüsse der Union eine der Ursachen der sinkenden Weltmarktpreise in den Siebziger- und Achtzigerjahren, so ist heute das allmähliche Versiegen dieser Überschüsse eine der Ursachen der Teuerung.
2. Die Vereinigten Staaten können dem Weltmarkt nicht nur einen kleineren Teil ihrer Ernte abgeben als früher; sie liefern auch diesen Teil zu erhöhtem Preise. Der Preis des Getreides ist bestimmt durch die Produktionskosten auf dem letzten noch bebauten Boden; die niedrigeren Produktionskosten auf den besseren Bodengattungen senken nicht den Preis, sie sichern nur den Eigentümern des Bodens die Differenzialrente. Nun sind die besseren Bodengattungen längst bebaut. Heute vollzieht sich die Expansion des amerikanischen Ackerbaues vor allem in den regenarmen Gebieten des Westens. Dies erfordert große Bewässerungsanlagen, Trockenfarmerei, also erhöhte Produktionskosten, überdies erhöhte Transportkosten; daher Steigen der Getreidepreise. Der Durchschnittsexportpreis eines Bushel amerikanischen Weizens, der 1895 0,58 Dollar betrug, erreichte 1909 und 1910 die Höhe von 1,02 Dollar, 1911 1,93 Dollar!
3. Die Expansion des Ackerbaues in den regenarmen Gebieten hat zugleich den Rückgang der Viehzucht zur Folge. Die Vermehrung des Viehstandes hält mit dem Bevölkerungswachstum nicht mehr gleichen Schritt. Auf 100 Einwohner entfielen 1880 79 Rinder und 98 Schweine, 1912 60 Rinder und 60 Schweine. Daher ständiger Rückgang der Ausfuhr. Im Jahre 1905 wurden 567.000 Rinder, im Jahre 1910 139.000 ausgeführt. Die Ausfuhr von Fleisch und Molkereiprodukten betrug:
|
|
Millionen Mark |
1901 |
829,2 |
|
---|---|---|
1905 |
715,7 |
|
1910 |
549,9 |
Geht die Viehhaltung überhaupt zurück, so erfolgen Zucht und Mästung infolge des Überganges von der Steppenweidewirtschaft zu intensiverer Viehzucht mit erhöhten Kosten. Daher schnelle Steigung der Preise aller Erzeugnisse der Viehzucht.
Die Zeit, in der dem Weltmarkt die großen, mit überaus niedrigen Produktionskosten erzeugten Überschüsse der nordamerikanischen Landwirtschaft und Viehzucht zur Verfügung standen, ist vorüber. Andere Länder schicken sich an, an die Stelle zu treten, die einst die Vereinigten Staaten besetzt hatten — junge Kolonialländer, die noch über gewaltige Flächen jungfräulichen Bodens verfügen. So vor allem Kanada und Argentinien. Aber die Entwicklung dieser Länder vollzieht sich keineswegs so schnell, daß sie Europa für den Rückgang der Lebensmittelüberschüsse der Vereinigten Staaten entschädigen könnten. Wohl ergießt sich aus den ost- und südeuropäischen Ländern ein gewaltiger Menschenstrom alljährlich nach Amerika. Aber nur ein kleiner Teil der Auswanderer fließt in die kanadische und die argentinische Landwirtschaft ab, um dort Boden zu roden und den Ackerbau auszudehnen; die Masse der Auswanderer ziehen die Industrie und der Bergbau der Vereinigten Staaten an sich. Der Prozeß der Industrialisierung hat auch die europäischen Auswanderer erfaßt; die "Landflucht" und "Leutenot" der europäischen Landwirtschaft besitzen ihr Gegenbild darin, daß die Ackerbaukolonien nicht die zur schnellen Ausdehnung des Ackerbaues erforderliche Zahl von Kolonisten finden, weil die nordamerikanische Industrie die europäischen Auswanderer an sich lockt. Noch schwerer wird die Expansion des Ackerbaues, wenn die Eigentumsverhältnisse die Heranziehung von Kolonisten hemmen; so in Argentinien, dessen Latifundien ein Hindernis der schnelleren Erschließung des Landes sind.
Die Industrie hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten überaus schnell entwickelt. Der Bedarf nach Rohstoffen und Lebensmitteln ist gewaltig angewachsen. Die Entwicklung der Landwirtschaft und Viehzucht aber blieb hinter diesem Wachstum zurück. Dieses Mißverhältnis ist eine der Ursachen der Teuerung. Infolge des Zurückbleibens der landwirtschaftlichen Produktion hinter dem Bedarf der Industrievölker sind die Preise des Getreides, der Futtermittel, der Baumwolle, des Viehes, der Häute und Felle, der Schafwolle gestiegen.
Daß die Landwirtschaft den Industrievölkern nicht die Mengen von Rohstoffen und Lebensmitteln zu liefern vermag, die sie bei unveränderten Preisen konsumieren würden, ist nicht der Kargheit der Natur zuzuschreiben. Die landwirtschaftliche Produktion der Welt könnte auf der heute schon erreichten Stufe der Produktions- und Verkehrstechnik um ein Vielfaches vermehrt werden. Nach Ballod könnte zum Beispiel die Weizenfläche der Erde mehr als verdoppelt werden. [4] Überdies könnten die Hektarerträge, wie der Vergleich der Erträgnisse der einzelnen Länder uns gezeigt hat, in den größten Produktionsgebieten bedeutend erhöht werden. Der Ausdehnung der landwirtschaftlichen Produktion stehen nicht unveränderliche natürliche, sondern revolutionierbare soziale Hindernisse entgegen.
Die kapitalistische Produktionsweise beruht auf dem Privateigentum an Grund und Boden. Die Gesellschaft überläßt die Erzeugung von Lebensmitteln Privatleuten, ohne ihnen das Wissen und die materiellen Mittel zu geben, dem Boden den größtmöglichen Ertrag abzuringen. Auf dem größten Teil der bewohnten Erde steht die tatsächlich geübte landwirtschaftliche Technik im schreienden Mißverhältnis zu der landwirtschaftlichen Technik, die das Ergebnis der modernen Wissenschaft ist.
Aus dem Privateigentum an den Produktionsmitteln folgt die Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise. Die Gesellschaft überläßt es den Kapitalisten, welchen Produktionszweigen sie ihr Kapital zuführen, sie überläßt es den Arbeitern, in welchen Produktionszweigen sie ihre Arbeitskraft verwerten wollen. Die Anarchie der Produktionsweise führt immer wieder zur Disproportionalität der Produktion. So hat die Weltwirtschaft in den letzten Jahrzehnten Kapital und Arbeitskräfte in den Städten und Industriegebieten Europas und Amerikas zusammengeballt, ohne sich darum zu kümmern, ob die Erzeugung von Lebensmitteln und Rohstoffen für diese anschwellenden Volksmassen in gleichem Tempo ausgedehnt wird. In den steigenden Weltmarktpreisen erfährt sie, daß die Gesellschaft nicht ungestraft die Zahl der Baumwollspindeln vermehren kann, ohne den Baumwollanbau in gleichem Verhältnis auszudehnen, nicht ungestraft die Volksmassen in den Industriestädten zusammenhäufen, ohne daß Getreideanbau und Viehzucht im gleichen Masse wachsen.
Die Teuerung stellt daher den internationalen Sozialismus vor seine eigentliche Aufgabe: die Versorgung des Volkes mit allem, was es braucht, von der Einsicht, der wirtschaftlichen Kraft und der Profitgier von Privatleuten zu befreien; sie zur Aufgabe des Gemeinwesens selbst zu erheben, alle Arbeitenden in den Dienst der organisierten Gesellschaft zu stellen und sie auf die einzelnen Produktionszweige aufzuteilen in dem Verhältnis, in dem die Gesellschaft ihrer Arbeit bedarf.
Das schnelle Wachstum der Industrie in den letzten zwei Jahrzehnten hat die Zusammenhäufung der Bevölkerung in den großen Städten und Industriegebieten beschleunigt. Das Deutsche Reich zählte im Jahre 1895 28 Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern, in denen zusammen 7.261.000 Menschen wohnten; 1910 hatte es schon 48 Großstädte mit. 13.823.348. Einwohnern. Noch schneller ist das Wachstum der amerikanischen Städte. Die Vereinigten Staaten zählen bereits 50 Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern. Die Urbanisierung, Verstadtlichung der Volksmassen vollzog sich in den letzten zwei Jahrzehnten in beschleunigtem Tempo. Nie waren die Klagen über die Leutenot auf dem Lande, über die Wohnungsnot in den Städten so laut wie in den letzten Jahrzehnten.
Die Anhäufung der Bevölkerung, das schnelle Wachstum der Städte führen zur Verteuerung der Wohnungen, Geschäftsladen und Werkstätten, zur Steigerung der städtischen Bodenrente, zum Steigen der Bodenpreise. Die Verteuerung der Wohnungen ist eine die Arbeiterklasse besonders schwer treffende Teilerscheinung der allgemeinen Teuerung; die Verteuerung der Werkstätten und Geschäftsladen erhöht die Kosten der Handwerker und Händler in der Stadt, besonders die Kosten des Detailhandels. Die Erhöhung dieser Kosten führt wieder zur Erhöhung der Warenpreise. Das Privateigentum am städtischen Grund und Boden ist nicht nur die Wurzel der Wohnungsteuerung, sondern auch eine der Wurzeln der Verteuerung der Warenpreise überhaupt.
Jede Stadt bezieht gewisse schnell verderbliche Waren, wie Milch, Gemüse u.s.w. vorerst aus ihrer nächsten Umgebung. Je größer die Bevölkerung der Stadt wird, desto größer muß auch das Gebiet werden, das die Stadt mit diesen Lebensmitteln versorgt. In der Kleinstadt, deren Bedarf an diesen Lebensmitteln ein kleiner Kreis rings um sie decken kann, können die ländlichen Produzenten ihre Waren unmittelbar den städtischen Verbrauchern oder doch den Kleinverschleißern in der Stadt zuführen. Wird der Kreis aber größer, so schiebt sich zwischen den ländlichen Produzenten und den städtischen Konsumenten der Händler ein, der die Ware auf dem Lande aufkauft und auf den städtischen Märkten an die Kleinverschleißer abgibt. Mit dem Wachstum der Städte genügt oft der eine Händler nicht mehr; die Ware geht durch die Hände einer ganzen Reihe von Kaufleuten, ehe sie aus dem Bauernhof in die Küche des Konsumenten kommt. Die Vergrößerung des Kreises rings um die Stadt, der ihren Bedarf an schnell verderblichen Waren deckt, erhöht die Warenpreise um den Zuwachs der Transport- und der Handelskosten. Überdies aber macht er das Handelskapital zum Herrn der Lebensmittelversorgung der Stadt. Zuweilen gelingt es einem Ring weniger Kapitalisten, den Vieh- oder den Milchmarkt einer Stadt monopolistisch zu beherrschen. Nicht selten gewinnt das Handelskapital eine beherrschende Stellung, indem es die Produzenten oder die kleinen Sammelhändler, die die Waren bei den Bauern aufkaufen, auf der einen, die Kleinverschleißer in der Stadt auf der anderen Seite durch Kreditgewährung von sich abhängig macht. Solche Erscheinungen sind besonders auf den Viehmärkten der Großstädte oft beobachtet worden. In solchen Fällen kann das Handelskapital die Erzeugnisse der Landwirtschaft und der Viehzucht der Stadt zu Preisen abgeben, die hoch über den Verkaufspreisen der Produzenten stehen.
Indessen führt die schnelle Entwicklung der landwirtschaftlichen Genossenschaften sehr oft schon zur Ausschaltung des Zwischenhandels. Die Vertriebsorganisation der Landwirte tritt an die Stelle des Handelskapitals. Der direkte Verkehr zwischen dem ländlichen Produzenten und dem städtischen Konsumenten wird durch die Genossenschaft wieder hergestellt. Aber die Ausschaltung des Handelskapitals durch die Genossenschaft der Landwirte führt selten zur Ermäßigung der Preise. In der Regel führt sie dazu, daß Verbände landwirtschaftlicher Genossenschaften, die den industriellen Kartellen ähnlich wirken, eine monopolistische Stellung auf dem städtischen Markt gewinnen und ihm Monopolpreise diktieren. Solche Organisationen der Landwirte haben in den letzten Jahrzehnten insbesondere die Milchpreise der größeren Städte wiederholt erhöht.
Die schroffe Scheidung von Stadt und Land ist ein Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung. Die anarchische Produktionsweise des Kapitalismus überläßt es den Kapitalisten, wo sie ihre Produktionsstätten aufschlagen, wo sie die Arbeitermassen zusammenhäufen wollen. So führt sie zur Überfüllung der Städte und zur Leerung der Dörfer. Das schnelle Wachstum der Städte und Industriegebiete löst preiserhöhende Entwicklungserscheinungen aus, die im letzten
Grund aus derselben Wurzel stammen wie die Disproportionalität zwischen industrieller und landwirtschaftlicher Produktion: aus der Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise, die aus dem Privateigentum an den Produktionsmitteln folgt.
Hand in Hand mit dem gewaltigen äußeren Wachstum der Industrie in den letzten zwei Jahrzehnten ging die Umwälzung ihrer inneren Struktur.
Die Kapitalisten streben in jedem Industriezweig darnach, die Konkurrenz untereinander auszuschalten und sich von der Herrschaft der Warenpreise zu befreien, indem sie monopolistische Vereinigungen schaffen, die die Preise beherrschen. Das Ergebnis dieses Strebens sind die Kartelle, Syndikate und Trusts.
Sobald das kapitalistische Privatmonopol in einem Produktionszweig verwirklicht, die Konkurrenz in ihm ausgeschaltet ist, löst sich der Preis der Waren von den Produktionskosten los. An die Stelle des Konkurrenzpreises tritt der Monopolpreis. Die Verringerung der Produktionskosten senkt nicht mehr den Preis; sie erhöht nur noch die Profite der Kapitalisten.
Allerdings kann die Erhöhung der Profitrate in den kartellierten und vertrusteten Produktionszweigen dazu führen, daß neues Kapital diesen Produktionszweigen zuströmt, daß sie daher, sei es durch Entstehung von Außenseiter-Betrieben, sei es durch Vergrößerung der Produktionsfähigkeit der kartellierten Betriebe selbst, zur Ermäßigung der Preise gezwungen werden. Aber solche Rückschläge werden mit wachsendem Erfolg verhindert einerseits durch die Macht der, Großbanken, die durch Kreditsperre die Entstehung von Außenseiter-Betrieben verhindern und die von ihnen kontrollierten Unternehmungen selbst gegen den Willen ihrer Eigentümer in die Kartelle und Trusts hineinzwängen; anderseits durch die verschiedenartigen Methoden des Organisationszwanges, deren sich die industriellen Kartelle und Trusts selbst im Kampf gegen die Außenseiter bedienen. [5] Wo es auf diese Weise gelingt, der Freizügigkeit des Kapitals Dämme entgegenzusetzen und die Konkurrenzfreiheit aufzuheben, dort ist der Preis der Kartell- oder Trustprodukte von den Produktionskosten unabhängig.
Die Kartellierung oder Vertrustung gelingt zunächst dort, wo sie in der Monopolisierung von Naturschätzen eine Stütze findet. Der amerikanische Petroleumtrust, der amerikanische Stahltrust, das rheinisch-westfälische Kohlensyndikat, der deutsche Stahlwerksverband, das comptoir de Longwy, das österreichische Eisenkartell beruhen auf der Monopolisierung von Bodenschätzen durch das Kapital. Die durch solche Privatmonopole bewirkte Erhöhung der Rohstoffpreise senkt die Profitrate der diese Rohstoffe verarbeitenden Industriezweige. Dadurch werden die Kapitalisten dieser Industriezweige gezwungen, gleichfalls durch Kartell- oder Trustbildung die Erhöhung der Preise ihrer Waren anzustreben. Die Gründung jedes Kartells oder Trusts wirkt als Antrieb zur Gründung neuer Kartelle und Trusts.
In der Regel blieb die Bewegung bisher auf die Rohstoff- und Halbfabrikatindustrien beschränkt. In den Industrien, die Fertigfabrikate erzeugen, gelingt die Monopolbildung nur selten. Trotzdem wurden auch die Preise dieser Waren erhöht, da sie die Erhöhung der Rohstoff preise wenigstens teilweise auf die Konsumenten abwälzen können.
Die technische Entwicklung der letzten zwei Jahrzehnte hat die Produktivität der Arbeit erhöht, die Produktionskosten der Industrie gesenkt. Trotzdem sind die Preise der Industrieprodukte im allgemeinen nicht gesunken, sondern gestiegen. Das ist darauf zurückzuführen, daß die Verringerung der Produktionskosten der die Rohstoffe verarbeitenden Industrie überkompensiert wurde durch die Verteuerung der Rohstoffe selbst, die herbeigeführt worden ist teils durch die Disproportionalität zwischen industrieller und landwirtschaftlicher Entwicklung, teils durch den Übergang vom Konkurrenzpreis zum Monopolpreis. Die Teuerung ist also eine Folge einerseits der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Produktionssphären, vornehmlich zwischen Industrie und Landwirtschaft um den Zuwachs an Kapital und Arbeitskräften; anderseits der Ausschaltung der Konkurrenz innerhalb einzelner Produktionssphären. [6] Sie ist einerseits eine Folge der Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise, anderseits eine Wirkung der Organisation der kapitalistischen Unternehmer.
In den kartellierten und vertrusteten Produktionszweigen ist die Produktion bereits vergesellschaftet, Produktionsmittel und Arbeitskräfte werden von einer Stelle aus planmäßig geleitet. Aber diese Vergesellschaftung ist erfolgt nicht durch die Gesellschaft und für die Gesellschaft, sondern durch das Kapital auf Kosten der Gesellschaft. Diese kapitalistische Vergesellschaftung ist eine der Ursachen der Teuerung. Was nun zu geschehen hat, ist die Übertragung der vom Kapital vergesellschafteten Produktionsmittel in das Eigentum der Gesellschaft selbst. "Die Nation an die Stelle der Trusts" — das ist die Aufgabe, die die Teuerung der Arbeiterklasse stellt.
Durch die Erschließung neuer Goldlager und die technischen Umwälzungen der Goldgewinnung sind die Produktionskosten des Goldes verringert worden. Der Wert des Goldes ist gesunken, da die Gesellschaft zu seiner Gewinnung weniger Arbeit braucht. Dadurch wurde das Austauschverhältnis zwischen dem Gold und den Waren verändert. Das Sinken des Goldwertes spiegelt sich im Steigen der Warenpreise.
Die Richtigkeit dieser Ansicht ist von einigen Ökonomen bestritten worden. [7] Ihren Gegnern ist zuzugeben, daß die Verringerung der Gewinnungskosten des Goldes nicht die einzige, nicht einmal die vornehmlichste Ursache der Teuerung ist. Doch ist neben den anderen Ursachen wohl auch die Verringerung des Goldwertes eine Ursache der Teuerung. Die Möglichkeit, Gold mit geringeren Kosten zu gewinnen, hat eine gewaltige Steigerung der Goldproduktion herbeigeführt; wir haben die schnelle Ausdehnung der Goldproduktion schon oben als eine der Ursachen der Beschleunigung des Tempos der kapitalistischen Entwicklung bezeichnet, die ihrerseits die preiserhöhenden Entwicklungsvorgänge ausgelöst hat.
Die kapitalistische Produktion beruht auf der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Jeder Produktionszweig erzeugt Güter für den Bedarf der Gesellschaft und empfängt als Gegenwert von der Gesellschaft die Arbeitsprodukte anderer Produktionszweige. Solange aber die gesellschaftliche Produktion auf das Privateigentum an den Produktionsmitteln gegründet ist, erfolgt die Verteilung des gesellschaftlichen Arbeitsertrages auf die einzelnen Produktionszweige nicht durch die bewußte geregelte Aktion der organisierten Gesellschaft selbst, sondern durch Kauf und Verkauf, durch Umsetzung von Ware gegen Geld und Geld gegen Ware. Der gesellschaftliche Charakter der Arbeit, die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse verkörpern sich in Naturdingen, in Gold und Silber. Das Schicksal dieser Naturdinge wälzt daher die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse um. Veränderungen in den Produktionsbedingungen einer Sache, des Goldes, revolutionieren die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen. Empört sich die Arbeiterklasse gegen die Teuerung, so rebelliert sie dagegen, daß die sozialen Verhältnisse zwischen den Menschen verkleidet werden in Preisbeziehungen zwischen Sachen. Sie rebelliert damit gegen die Fortdauer des Wesens der kapitalistischen Produktionsweise: gegen die Fortdauer des Widerspruchs zwischen der gesellschaftlichen Produktion und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln.
In allen kapitalistischen Ländern sind in den letzten Jahrzehnten die Ausgaben der Staaten und der Gemeinden
sprunghaft gestiegen. Die Steigerung des öffentlichen Aufwandes ist zum Teil eine Folge der Steigerung der Verwaltungserfordernisse, die aus der allgemeinen Teuerung hervorgeht und durch die Zusammenhäufung der Bevölkerung in den großen Städten und Industriegebieten beschleunigt wird; zum anderen Teil aber eine Wirkung der ungeheuerlichen Vermehrung des Aufwandes für den Militarismus und den Marinismus. Die Ausgaben der sechs europäischen Großmächte und der Vereinigten Staaten von Amerika für Heer und Flotte betrugen (ohne die außerordentlichen Ausgaben anläßlich des Balkankrieges):
|
|
1891 |
|
1912 |
---|---|---|---|---|
Millionen Mark |
||||
Heer |
2664,2 |
|
4661,5 |
|
Flotte |
882,0 |
2878,0 |
||
Zusammen |
3546,2 |
7539,5 |
Die großen Aufwendungen für den Militarismus und Marinismus werden zum Teil durch Erhöhung der Steuern gedeckt. Die Erhöhung der indirekten Steuern führt unmittelbar zur Erhöhung der Warenpreise. Aber auch von den direkten Steuern können die von ihnen betroffenen Kapitalisten einen Teil auf die Käufer ihrer Waren abwälzen.
Noch schneller als die Steuern wachsen die Staatsschulden. Von 1891 bis 1912 sind die Schulden der fünf Großmächte des europäischen Festlandes (ohne die Schulden der deutschen Bundesstaaten und der österreichischen Kronländer) von 57.409 auf 76.625 Millionen Mark gestiegen. Die Überflutung der Märkte mit Staatsschuldverschreibungen erschwert den Absatz der Pfandbriefe, sie entzieht den Sparkassen die Spargelder, sie erschwert die Beschaffung von Hypothekarkredit. Dadurch wird einerseits die Bautätigkeit gelähmt, die städtische Wohnungsnot gesteigert, die Wohnungsteuerung gefördert; anderseits die Steigerung der Produktivität der Landwirtschaft durch die Erschwerung der Beschaffung von Meliorationskredit verlangsamt. Auch das Anschwellen der Staatsschulden trägt also zur Verteuerung der Wohnungen und der Lebensmittel bei.
In den hohen Preisen, die das Volk für Lebensmittel und Wohnungen bezahlen muß, birgt sich auch sein Tribut an den Imperialismus und Militarismus.
Unter dem Druck der wirtschaftlichen Umwälzung der letzten Jahrzehnte hat sich die Wirksamkeit der Einfuhrzölle vollständig verändert.
Als die Vereinigten Staaten und Rußland in den Siebziger und Achtziger Jahren ihre großen Überschüsse billigen Getreides auf die europäischen Märkte warfen, suchten die Staaten des europäischen Festlandes durch die Getreidezölle ihre Landwirtschaft gegen eine überlegene Konkurrenz zu schützen, die das Getreide auf dem europäischen Markt zu Preisen feilbot, die niedriger waren als die Produktionskosten des mitteleuropäischen Getreidebaus. Die Getreidezölle erschienen damals notwendig, den mitteleuropäischen Getreidebau vor dem Ruin, die Landwirte vor schneller Proletarisierung zu bewahren. Die Wirkung der Zölle auf den Getreidepreis war damals nicht fühlbar: zwar hielten die Zölle den Inlandpreis um den Zollbetrag über dem Weltmarktpreis; da aber die Weltmarktpreise sanken, so sanken bei gleichbleibender Höhe der Zölle auch die Inlandpreise in den Schutzzollstaaten.
Heute ist das Bild wesentlich verändert. Die "amerikanische Gefahr" bedroht die europäische Landwirtschaft nicht mehr. Die Weltmarktpreise sind so gestiegen, daß die europäische Landwirtschaft des Zollschutzes nicht mehr bedarf, um bestehen zu können. Der Preis von 1000 Kilogramm Weizen betrug im Jahresdurchschnitt in Mark:
|
Chicago |
London |
Odessa |
Paris |
Berlin |
Wien |
---|---|---|---|---|---|---|
1903 |
120 |
135 |
113 |
186 |
161 |
149 |
1904 |
153 |
144 |
121 |
180 |
174 |
175 |
1905 |
148 |
149 |
126 |
191 |
175 |
168 |
1906 |
121 |
143 |
120 |
192 |
180 |
152 |
1907 |
137 |
155 |
178 |
195 |
206 |
190 |
1908 |
150 |
160 |
177 |
184 |
211 |
222 |
1909 |
173 |
186 |
173 |
198 |
233 |
264 |
1910 |
159 |
157 |
147 |
213 |
211 |
214 |
1911 |
144 |
155 |
146 |
212 |
204 |
220 |
1912 |
153 |
172 |
162 |
235 |
217 |
215 |
Am Ende der zehnjährigen Periode ist der Preis in Chicago, London, Odessa bereits ungefähr so hoch wie er am Anfang der Periode in Paris, Berlin, Wien war. Die Weltmarktpreise sind heute so hoch wie die Inlandpreise der Schutzzollstaaten noch vor wenigen Jahren. Die mitteleuropäische Landwirtschaft könnte heute auch ohne Getreidezölle bestehen. Sind die Getreidezölle nicht mehr notwendig, so ist anderseits ihre Wirkung auf den Getreidepreis jetzt viel empfindlicher fühlbar als ehedem. Unsere Tabelle zeigt, daß die Preise in den Schutzzolländern hoch über den Weltmarktpreisen stehen.
In einer Zeit, in der selbst die Weltmarktpreise drückend hoch sind, ist die Verteuerung des Getreides noch über den hohen Weltmarktpreis hinaus schwer zu ertragen. Haben die Zölle früher nur das Sinken der Getreidepreise verlangsamt, so beschleunigen sie in den Schutzzolländern heute das Steigen der Preise.
Noch schwerer als die Getreidepreise belasten die Vieh- und Fleischeinfuhrverbote, die einige Staaten erlassen haben, den Verbrauch. Sind die Preise animalischer Nahrungsmittel überall noch schneller gestiegen als die Getreidepreise [8], so ist in den Ländern, die die Einfuhr von Vieh und Fleisch nicht zulassen, die Steigerung besonders drückend. 100 Kilogramm Vieh kosteten:
|
London |
London |
Paris |
Berlin |
Wien |
---|---|---|---|---|---|
argentinisches |
englisches |
(Fleisch- |
(Schlacht- |
(Lebend- |
|
(Fleischgewicht) |
|||||
100 Kilogramm in Mark |
|||||
1903 |
— |
— |
115,2 |
129,0 |
62,8 |
1904 |
— |
101,9 |
113,3 |
131,5 |
63,4 |
1905 |
47,6 |
99,0 |
114,5 |
137,5 |
69,1 |
1906 |
49,3 |
97,5 |
103,5 |
147,7 |
69,1 |
1907 |
53,1 |
101,7 |
122,0 |
146,6 |
71,4 |
1908 |
58,0 |
104,3 |
127,2 |
139,6 |
66,3 |
1909 |
52,4 |
106,4 |
125,3 |
131,6 |
68,3 |
1910 |
58,2 |
112,8 |
120,1 |
145,0 |
74,7 |
1911 |
51.1 |
107,1 |
135,7 |
153,7 |
86,2 |
1912 |
60,5 |
117,0 |
136,3 |
166,2 |
91,8 |
Die Viehpreise steigen überall. Sie steigen am stärksten im Deutschen Reich und in Österreich, die unter dem Vorwand, ihren Viehstand gegen die Einschleppung von Tierseuchen schützen zu müssen, die Einfuhr von Vieh und Fleisch verboten haben.
Tyszka veranschaulicht in seiner schon oben angeführten Arbeit die Wirkungen der Getreidezölle und der Vieh- und Fleischeinfuhrverbote in folgender Weise. Er setzt den durchschnittlichen Aufwand eines Haushalts für Brot und Fleisch im Jahrfünft 1896 bis 1900 gleich 100 und berechnet sodann, wie der Aufwand bei gleichem Verbrauch gestiegen ist. Die Rechnung führt zu folgenden Ergebnissen:
|
Brot |
|||
---|---|---|---|---|
Deutsches |
Öster- |
Groß- |
Nieder- |
|
1896 bis 1900 |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
1901 bis 1905 |
102,3 |
92,8 |
101,8 |
96,9 |
1906 bis 1910 |
124,4 |
114,6 |
110,8 |
114,1 |
1911/12 |
127,7 |
117,0 |
113,8 |
114,5 |
|
Rindfleisch |
|||
Deutsches |
Öster- |
Groß- |
Nieder- |
|
1896 bis 1900 |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
1901 bis 1905 |
108,3 |
102,4 |
106,0 |
121,3 |
1906 bis 1910 |
222,0 |
117,1 |
109,2 |
125,4 |
1911/12 |
130,0 |
138,5 |
117,8 |
126,9 |
Die Steigerung des Aufwandes für Brot, besonders aber für Fleisch, ist in Deutschland und Österreich weit größer als in Großbritannien und Holland — in den Schutzzollstaaten weit größer als in den Freihandelsländern.
Wie die Wirkung der Agrarzölle, so hat sich auch die Wirkung der Industriezölle verändert. Die Staaten des europäischen Festlandes und die Vereinigten Staaten von Amerika haben die Industriezölle eingeführt, um ihre noch junge Industrie gegen die überlegene Konkurrenz älterer Industriestaaten, vor allem Englands, zu schützen. Unter dem Schütze der Zölle sollte sich die Industrie entwickeln. Der Zoll sollte im Preis der Waren nicht dauernd zum Ausdruck kommen: man hoffte, die Konkurrenz werde die Preise um so schneller drücken, je schneller sich unter dem Schutz der Zölle die Industrie entwickeln werde. Der Zoll sollte auch nicht dauernd notwendig bleiben: er werde, so glaubte man, entbehrlich werden, sobald die junge Industrie unter dem Schutz der Zölle so erstarkt sein werde, um den Konkurrenzkampf mit der ausländischen Industrie bestehen zu können.
Seitdem aber die Entwicklung des modernen Kapitalismus zur Bildung der Kartelle, Syndikate und Trusts geführt hat, ist die Wirkung der Industriezölle eine ganz andere. Die Zölle ermöglichen in den meisten Fällen erst die Bildung der kapitalistischen Privatmonopole; ein Vergleich der englischen Volkswirtschaft mit der des Deutschen Reiches, der Vereinigten Staaten und Österreichs zeigt sofort, daß die Zahl und die Macht der kapitalistischen Privatmonopole in den Schutzzolländern weit größer sind als in Freihandelsländern. Die Zölle bestimmen zugleich auch den Preis, den Kartelle und Trusts auf dem inländischen Markt für ihre Waren erzielen können. Da die Kartelle und Trusts den Zoll stets vollständig ausnützen können, kann der Preis desto höher sein, je höher der Zoll ist. Endlich dienen die Zölle nicht mehr nur der Verteidigung des inneren Marktes, sondern auch dem Angriff auf dem Weltmarkt; die Mehrgewinne, die die Kartelle und Trusts dank den Zöllen auf dem inländischen Markt erzielen, erlauben es ihnen, durch Exportprämien die Ausfuhr zu fördern. Die Industriezölle sind daher nicht mehr nur eine vorübergehende Einrichtung, die eine Industrie nur so lange braucht, als sie noch im Werdegang ist und nicht imstande, mit der älteren und entwickelteren ausländischen Industrie zu konkurrieren; das Kapital braucht sie jetzt auch bei voller Reife und höchster Leistungsfähigkeit der Industrie, um den Bestand der Kartelle und Trusts zu sichern, die Preise auf dem Inlandsmarkt hochzuhalten und seine Kraft im Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt zu stärken. [9] Die Industriezölle, aus Erziehungszöllen zu Kartellschutzzöllen geworden, wirken daher in den Schutzzolländern auf die Preisbildung heute ungleich stärker ein als früher. Während sie aber in den Schutzzollstaaten die Teuerung verschärfen, wirken sie ihr in den Freihandelsländern entgegen, indem sie den Schleuderexport ("dumping") der Kartelle der Schutzzolländer in die Freihandelsländer durch Ermöglichung hoher Exportprämien fördern.
Die Waren, die die Kartelle und Trusts auf den Markt bringen, sind nun vornehmlich Rohstoffe und Halbfabrikate. Die Kartellschutzzölle haben also die Tendenz, die Rohstoffe und Halbfabrikate in den Schutzzolländern empfindlich zu verteuern, sie aber zugleich auch in den Freihandelsländern zu verbilligen. In der Industrie, die diese Rohstoffe und Halbfabrikate verarbeitet, werden dadurch die Konkurrenzverhältnisse verschoben. Da den Freihandelsländern billigere Rohstoffe und Halbfabrikate zur Verfügung stehen, sind ihre Fertigfabrikatindustrien denen der Schutzzollstaaten überlegen. Die Schutzzollstaaten können ihre Industrie nur dadurch — und auch dadurch nur teilweise, nur auf dem inneren Markt — entschädigen, daß sie auch auf Fertigfabrikate hohe Zölle legen. Sind Zölle auf Eisen gegeben, so sind Zölle auf Maschinen notwendig; ist das Garn zollpflichtig, so können Zölle auf Gewebe, Wäsche und Kleider nicht entbehrt werden. So wird auf die Zölle für die von den Kartellen und Trusts kontrollierten Rohstoffe und Halbfabrikate ein System der industriellen Schutzzölle aufgebaut, das beinahe alle Industrieprodukte verteuert. Das allgemeine Preisniveau wird dadurch beträchtlich erhöht.
Das Steigen der Weltmarktpreise ist eine Folge der überaus schnellen Entwicklung des Kapitalismus in dem letzten Vierteljahrhundert. Aus dem ganzen Wesen des Kapitalismus erflossen, kann es auf dem Boden des Kapitalismus nicht verhindert, nicht rückgängig gemacht werden. Wohl aber kann die Arbeiterklasse jedes Landes den Kampf dagegen aufnehmen, daß die Warenpreise in ihrer Heimat, noch über die hohen Weltmarktpreise hinaufgetrieben werden.
Der Kampf der Arbeiterklasse richtet sich daher zunächst gegen diejenigen Maßregeln der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung, die die Preise noch über das Niveau des Weltmarktes hinauftreiben.
Soweit die Erhöhung der Warenpreise die Folge der Erhöhung der Steuern und des Anschwellens der Staatsschulden ist, führt die Arbeiterklasse ihren Kampf gegen die Teuerung, indem sie den Militarismus und den Marinismus bekämpft und die Ersetzung der Steuern auf Volksnahrungsmittel und Wohnungen durch direkte Besitzsteuern fordert.
Soweit aber die Erhöhung der Warenpreise eine Folge der Zollpolitik einzelner Staaten ist, richtet sich der Kampf der Arbeiterklasse gegen die Schutzzölle und Einfuhrverbote. Die Arbeiterklasse ist durch die Entwicklung der Weltwirtschaft in den letzten Jahrzehnten gezwungen, die Einführung von Schutzzöllen in den Ländern, die bisher dem Freihandel treu blieben, zu verhindern, die Abtragung der bestehenden Schutzzölle in den anderen Ländern zu fordern. Die Arbeiterklasse muß heute den Kampf gegen das Schutzzollsystem führen, ohne darum in die Illusionen der Freihändler zu verfallen.
Der Freihandel — das ist die vollständige Abhängigkeit jedes Landes vom Weltmarkt, die schrankenlose Konkurrenz zwischen den verschiedenen Ländern, der wilde Konkurrenzkampf bis zur Vernichtung, mit Krisen, Bankerotten, Arbeitslosigkeit, Hungerlöhnen in seinem Gefolge.
Der Schutzzoll — das ist die feindliche Absperrung aller Länder gegeneinander, das Monopol der Kartelle und Trusts innerhalb jedes Landes, die Aushungerung der Volksmassen durch verschärfte Teuerung.
Keines der beiden Systeme der kapitalistischen Wirtschaftspolitik kann die Übel der kapitalistischen Produktionsweise heilen. Jedes der beiden vermeidet die Übel des ändern nur, um andere Übel an ihre Stelle zu setzen. Der Schutzzoll kann die Arbeitslosigkeit, der Freihandel die Teuerung nicht aus der Welt schaffen. Arbeitslosigkeit und Teuerung fallen erst mit dem Sozialismus.
Aber in der heutigen Phase der kapitalistischen Entwicklung ist, zumal in den industriell hochentwickelten Ländern, der Schutzzoll das größere Übel. Die Arbeiterklasse muß nicht jeden Schutzzoll, sie muß den Schutzzoll nicht unter allen Bedingungen bekämpfen. Wohl aber muß sie die beiden Gattungen der Zölle bekämpfen, die die Grundlagen des heutigen Schutzzollsystems sind: die Agrarzölle und die Kartellschutzzölle.
Der Kampf der Arbeiterklasse gilt zunächst den Lebensmittelzöllen: den Zöllen auf Getreide und Futtermittel, Vieh und Fleisch und den Vieh- und Fleischeinfuhrverboten. Die Steigerung der Weltmarktpreise hat diese Zölle unnötig und unerträglich gemacht.
Die Arbeiterklasse darf sich im Kampfe gegen die Agrarzölle nicht durch das unwahre Argument beirren lassen, dass die Zölle notwendig seien, die Masse der kleinen Landwirte vor dem Untergang zu bewahren. Sie hält diesem Argument folgende Tatsachen entgegen:
1. Bei den heutigen Weltmarktpreisen könnte die mittel- und westeuropäische Landwirtschaft auch ohne Zollschutz bestehen. Würde da oder dort infolge des Wegfalls des Zolls trotzdem eine Einschränkung der landwirtschaftlichen Produktion erfolgen, so würde anderseits die Entwicklung der Industrie beschleunigt, da die städtische Bevölkerung mehr Industrieprodukte kaufen kann, wenn sie ihren Bedarf nach Lebensmitteln zu billigerem Preise zu decken vermag. Die Verringerung des Arbeiterbedarfes der Landwirtschaft würde daher kompensiert durch die Vergrößerung des Arbeiterbedarfes der Industrie.
2. Gerade die kleinsten Landwirte, die dem Proletariat am nächsten stehen, haben an den Zöllen kein Interesse, da sie Getreide nicht für den Markt, sondern für den Eigenbedarf erzeugen. Müssen sie Getreide und Futtermittel kaufen, so werden sie durch die Zölle geschädigt.
3. In den Gebieten mit Pachtsystem führt die Erhöhung der Preise durch die Zölle zur Erhöhung der Pachtzinse. Nicht der arbeitende Pächter, sondern der müßige Grundherr ist der Nutznießer des Zolls.
In den Gebieten, in denen die Grundbesitzer selbst die Landwirtschaft betreiben, führt die Erhöhung der Preise durch die Zölle zur Erhöhung der Bodenpreise, daher auch zur Steigerung der Hypothekenlast. Bei jedem Kauf und jedem Erbgang wird dem Boden höhere Hypothekenlast aufgebürdet. Nicht der Landwirt, sondern das Hypothekenkapital ist der Nutznießer des Zolls.
So entfiel in Österreich auf jede Liegenschaft (mit Ausnahme des landtäflichen, des montanistischen und des städtischen Besitzes), die durch Kauf oder Erbgang in andere Hände überging, eine durchschnittliche hypothekarische Neubelastung von:
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durch Kreditierung |
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im Verlassen- |
Kronen |
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1892 |
2243 |
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1456 |
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---|---|---|---|---|
1901 |
2774 |
1784 |
||
1911 |
4495 |
2020 |
4. Die Erhöhung der Bodenpreise erschwert den landwirtschaftlichen Arbeitern und den Kleinbauern die Erwerbung des Bodens. Sie erleichtert die Konzentration des Bodens im Besitz der großen Grundherren.
Keinerlei sozialpolitische Erwägungen verwehren daher der Arbeiterklasse, die Beseitigung des agrarischen Schutzzollsystems zu fordern.
Der Kampf der Arbeiterklasse gilt weiter denjenigen Zöllen, die den Kartellen, Syndikaten und Trusts den ausländischen Wettbewerb vom Leibe halten, um den Bestand der kapitalistischen Privatmonopole zu sichern, ihnen die Hochhaltung der Preise im Inland und den Schleuderexport in das Ausland zu ermöglichen.
Die Arbeiterklasse darf sich im Kampfe gegen die Kartellschutzzölle nicht durch die ihr von den Kapitalisten vorgespiegelte "Harmonie der Interessen des Kapitals und der Arbeit" beirren lassen. Sie hält den Argumenten der Kapitalisten folgende Tatsachen entgegen:
1. Viele große Industrien, die heute den Zollschutz genießen, würden auch ohne Zollschutz in unverringertem Umfang bestehen können. Der Wegfall der Zölle würde nicht die Entwicklung einer schon voll entwickelten konkurrenzfähigen Industrie hindern. Er würde nur die Konkurrenz wieder herstellen, manche Kartelle und Trusts gänzlich zertrümmern, andere wenigstens zur Ermäßigung ihrer Preise zwingen.
2. Andere Industrien, die unter dem Zollschutz aufgeblüht sind, würden allerdings durch die Beseitigung der Zölle in ihrer Entwicklung gehemmt. Dagegen würde aber die Entwicklung der Fertigfabrikatindustrien erleichtert, die heute dadurch erschwert ist, daß die Kartelle und Trusts der heimischen Fertigfabrikatindustrie die Rohstoffe und Arbeitsmittel verteuern, dieselben Rohstoffe und Arbeitsmittel aber ihren ausländischen Konkurrenten zu Schleuderpreisen liefern. Die Einengung der Entwicklung der Rohstoff- und Halbfabrikatindustrien würde durch die schnellere Entwicklung der Fertigfabrikatindustrien überkompensiert. So würde zum Beispiel im Deutschen Reich und in Österreich der Wegfall des Eisenzolles zwar die Entwicklung der Eisenindustrie verlangsamen, aber auch die Entwicklung der Maschinenindustrie, des Schiffbaues u.s.w. beschleunigen. Diese Verschiebung wäre für die Arbeiterklasse vorteilhaft, da die Fertigfabrikatindustrien bei gleichem Kapital viel mehr Arbeiter beschäftigen und da die Arbeitsbedingungen in ihnen in der Regel günstiger sind.
Die Beseitigung der Agrarzölle und der Kartellschutzzölle würde auch die allmähliche Abtragung der anderen Zölle ermöglichen. Dadurch würde die Teuerung nicht aufgehoben, aber das Preisniveau doch auf die Höhe gesenkt, auf der es heute in den Freihandelsländern steht.
In der Tat sehen wir bereits die Arbeiter vieler Länder im Kampfe gegen das agrarisch-kapitalistische Schutzzollsystem, so im Deutschen Reich, in Österreich, in Italien, in der Schweiz. In den Vereinigten Staaten mußten die herrschenden Klassen bereits eine Ermäßigung der Zölle zugestehen, um die Erbitterung der Volksmassen über die Teuerung zu besänftigen. In Großbritannien mußten die Unionisten das schutzzöllnerische Programm Josef Chamberlains aufgeben, da die Unruhe der Arbeitermassen in den letzten Jahren zeigte, daß die britischen Arbeiter sich eine weitere Verteuerung der Lebenskosten nicht gefallen lassen würden. Im Kampfe gegen das agrarisch-kapitalistische Schutzzollsystem ist die Kooperation der sozialistischen Parteien verschiedener Länder möglich und notwendig. Im Jahre 1917 laufen die Handelsverträge ab, die die Staaten Mittel- und Osteuropas abgeschlossen haben. Dies bietet den sozialistischen Parteien Gelegenheit zu einem Vorstoß gegen das Schutzzollsystem. Ihre Kooperation in diesem Augenblick wird die Wucht ihres Angriffs verstärken. Haben die sozialistischen Parteien es bereits gelernt, im Kampfe gegen das militärische Wettrüsten ihre Kräfte zu vereinigen, so müssen sie es auch lernen, den Kampf gegen das zollpolitische Wettrüsten im Einverständnis miteinander und nach gemeinsamem Plan zu führen.
Die Entwicklung des Kapitalismus schiebt zwischen die Produktion und den Konsum ein gewaltiges System des vermittelnden Austausches ein, das vom Handelskapital beherrscht wird. Im weiteren Verlauf der Entwicklung entsteht aber die Tendenz, das Handelskapital auszuschalten und die Produktion wieder in unmittelbare Verbindung mit dem Konsum zu setzen.
Danach streben zunächst die Organisationen der Produzenten. Es wurde schon oben auf diese Bemühungen der landwirtschaftlichen Genossenschaften hingewiesen. Ähnlich bemühen sich auch viele Kartelle und Trusts, die Händler auszuschalten oder in ihre bloßen Agenten zu verwandeln, durch die sie ihre Waren möglichst unmittelbar an die Konsumenten zu bringen versuchen.
Auf der anderen Seite streben die Organisationen der Konsumenten nach demselben Ziele. Die Konsumvereine, zu Großeinkaufsgesellschaften vereinigt, suchen den Handel auszuschalten und die Waren unmittelbar von den Produzenten zu kaufen.
Die Gestaltung der Preise wird nun nicht unwesentlich dadurch beeinflußt, welche dieser Organisationen — die Kartelle, Trusts und Genossenschaften der industriellen und landwirtschaftlichen Unternehmer auf der einen, die Konsumgenossenschaften auf der anderen Seite — stärker sind. Sind die Unternehmerorganisationen stärker, dann wird der Gewinn, der bisher dem Handelskapital zufiel, nach seiner Ausschaltung den industriellen und landwirtschaftlichen Unternehmern zufallen. Ist aber die Macht der Konsumvereine groß, dann können sie einen Teil dieses Gewinns den Konsumenten zueignen.
Die Bedeutung der Genossenschaften wird noch größer, wenn sie sich nicht auf das Gebiet der Warenverteilung beschränken, sondern zur Eigenproduktion übergehen. Sie können dann den Unternehmergewinn industrieller Betriebe den Konsumenten zuführen und durch Gründung genossenschaftlicher Industriebetriebe die Konsumenten vom Preisdiktat kapitalistischer Monopole befreien.
In ihren Anfängen ist die Entwicklung der proletarischen Genossenschaften überaus erschwert durch die Armut und die geringe geschäftliche Erfahrung der Arbeiterklasse. Sind aber die Krankheiten der Kinderzeit überwunden, dann können auch die Genossenschaften zu einem wichtigen Mittel im Kampfe gegen die Teuerung werden. Diese Bedeutung der Genossenschaften hat die Internationale schon auf dem Kongreß in Kopenhagen anerkannt.
Ähnliche Aufgaben wie die Genossenschaften können auch die Gemeinden im Kampfe gegen die Teuerung erfüllen: Indem sie das Baugelände in den Gemeindebesitz erwerben, Volkswohnungen erbauen und die Kosten dieser Aktion durch Besteuerung der Grundrente decken; indem sie kommunale Brotfabriken, Schlächtereien, Mastanstalten und Molkereibetriebe errichten; indem sie die Lebensmittelzufuhr und die Märkte organisieren, können sie der Teuerung entgegenwirken.
In noch größerem Maßstab kann der Staat solche Aufgaben versehen. Der Staat kann zunächst die private Initiative fördern, so zum Beispiel, indem er durch Kredithilfe für den Bau von Volkswohnungen die Bautätigkeit anregt und indem er den Landwirten Meliorationen erleichtert, die die Produktivität der Landwirtschaft heben. Der Staat kann weiter den Druck der kapitalistischen Privatmonopole lindern, indem er Eisenbahnen, Bergwerke und einzelne Industriezweige verstaatlicht.
Alle diese Maßregeln sind allerdings nur dort förderlich, wo die kommunalen und staatlichen Unternehmungen unter der wirksamen Kontrolle demokratischer Parlamente, unter dem mächtigen Einfluß der Arbeiterklasse stehen. Wo die Arbeiterklasse sie nicht zu beeinflussen vermag, dort ist die Erweiterung der kommunalen und staatlichen Unternehmungen nur ein Mittel mehr, den Herrschaftsapparat der herrschenden Klassen zu stärken. Es hängt daher von den Machtverhältnissen der Klassen in jedem einzelnen Lande ab, ob Kommunalisierung und Verstaatlichung einzelner Unternehmungen als Mittel zur Bekämpfung der Teuerung angesehen werden können.
Die gewaltige industrielle Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat die Lage der Arbeiterklasse zunächst verbessert. Die Nachfrage nach Arbeitskräften stieg. Die Arbeitslosigkeit war kleiner als früher, die Zeiten der Depression kurz. Die Gewerkschaften erstarkten. Die Löhne stiegen. Der Grad der Ausbeutung schien zu sinken. Selbst im Lager des internationalen Sozialismus verbreitete sich die Hoffnung, die Arbeiterklasse werde allmählich und friedlich die kapitalistische Ausbeutung "aushöhlen" können.
Aber dieselbe schnelle industrielle Entwicklung, die zeitweilig die Lage der Arbeiterklasse wesentlich verbessert hat, hat in ihren weiteren Wirkungen die Teuerung herbeigeführt. Die Erhöhung der Löhne wurde überkompensiert durch das Steigen der Lebensmittelpreise und der Wohnungsmieten. Die Arbeiterklasse sieht sich der Erfolge ihrer opfervollen Lohnkämpfe beraubt. Die Ausbeutung steigt.
Tyszka hat die Bewegung der Geldlöhne und der Warenpreise verglichen und auf Grund von Haushaltungsbudgets die Bewegung der Reallöhne berechnet. Setzt man die Höhe der Reallöhne im Jahre 1900 gleich 100, so ergeben sich folgende Zahlen [10]:
|
Belgien |
Frankreich |
Großbritannien |
Preußen |
Spanien |
---|---|---|---|---|---|
1890 |
82,6 |
89,5 |
82,5 |
77,7 |
89,5 |
1895 |
92,3 |
— |
84,3 |
69,1 |
94,2 |
1900 |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
100,0 |
1905 |
86,0 |
104,5 |
91,6 |
88,1 |
94,1 |
1910 |
— |
106,0 |
92,2 |
82,9 |
102,0 |
Von 1890 bis 1900 sind die Reallöhne schnell und um ein bedeutendes gestiegen. Nach 1900 ist das Bild verändert. Seither zeigen die Reallöhne in Frankreich und in Spanien verlangsamtes Wachstum, in Belgien, Großbritannien und Preußen absoluten Rückgang!
Die Verschlechterung der Lebenshaltung hat die Volksmassen in einen Zustand der Unruhe und Erregung versetzt. Großbritannien steht unter dem Druck des "labour unrest", der "Unruhe der Arbeit". In den Vereinigten Staaten von Amerika hat die Unzufriedenheit der Volksmassen die republikanische Partei von der Macht gestoßen und gespalten, die bürgerliche Demokratie im Wesen verändert, den Sozialismus gestärkt. Im Deutschen Reich ist die Teuerung die Grundursache der großen Machtverschiebung, die bei den Reichstagswahlen von 1912 sichtbar wurde. In Frankreich und in Österreich hat die Teuerung im Jahre 1911 zu Straßenrevolten geführt. In Italien war sie ein Ferment der großen sozialen Gärung, die in den häufigen Massenstreiks ihren Ausdruck findet. Aber auch außerhalb der kapitalistischen Industriestaaten ist sie eine treibende Kraft sozialer und nationaler Bewegungen. In der Literatur über die revolutionären Bewegungen in der Türkei, in Persien, in Indien, in China wird die Teuerung immer wieder als eine der wichtigsten Ursachen der allgemeinen Unzufriedenheit bezeichnet.
Die Teuerung zwingt die Arbeiterklasse zum Kampf um höheren Lohn. Die Unternehmer schaffen immer gewaltigere Organisationen, den Arbeitern entgegenzutreten. Die Bedingungen des gewerkschaftlichen Kampfes sind verändert. Riesenhafte Streiks und Aussperrungen erschüttern alle Länder.
Während so die Klassengegensätze innerhalb der kapitalistischen Länder verschärft werden und die Erhebung der Kolonialländer den europäischen Kapitalismus mit neuen Gefahren bedroht, werden zugleich die Vorbedingungen der Überwindung der Kapitalsherrschaft geschaffen. Die Teuerung erhöht die Grundrente und den Profit des kartellierten und vertrusteten Kapitals. Schnell wachsende Reichtümer sammeln sich in den Händen einer kleinen Minderheit der Völker. In den großen Kartellen und Trusts wird die Produktion vergesellschaftet. Die Voraussetzungen für die Überführung der Produktionsmittel in das Eigentum und die Verwaltung des Gemeinwesens werden durch die kapitalistische Entwicklung selbst in beschleunigtem Tempo geschaffen.
Die Teuerung, selbst das Ergebnis einer schnelleren Entwicklung des Kapitalismus, beschleunigt ihrerseits diese Entwicklung. Sie revolutioniert die Arbeit und sie konzentriert das Kapital. So nähert sie uns mit Riesenschritten dem Augenblick, in dem die organisierte Arbeiterklasse sich der organisierten Kapitalsmacht bemächtigen wird, um mit allen Folgewirkungen des kapitalistischen Eigentums auch die Teuerung auszurotten.
1. Vergleiche Tyszka, Tatsachen und Ursachen der internationalen Verteuerung der Lebensmittel, Annalen für soziale Politik und Gesetzgebung, Berlin 1914.
2. Vgl. Preyer, Die russische Agrarreform, Jena 1914.
3. Vgl. Augstin, Die Entwicklung der Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten, Schriften des Vereins für Sozialpolitik, 141. Band.
4. Ballod, Grundriß der Statistik, Berlin 1913. Seite 87 ff.
5. Vergleiche Hilferding, Das Finanzkapital, Wien 1913. — Kestner, Der Organisationszwang, Berlin 1912.
6. Über den Doppelbegriff der Konkurrenz siehe: Marx, Theorien über den Mehrwert, II.1, Seite 58 ff.
7. Vergleiche Bauer, Die Teuerung, Wien 1910. — Varga, Goldproduktion und Teuerung; Hilferding, Geld und Ware; Bauer, Goldproduktion und Teuerung, Neue Zeit, XXX.2. — Karski, Teuerung, Warenpreise und Goldproduktion, Dresden 1913. — Kautsky. Die Wandlungen der Goldproduktion, 16. Ergänzungsheft zur Neuen Zeit.
8. Vgl. Spann, Theorie der Preisverschiebung, Wien 1913.
9. Vgl. Hilferding, Der Funktionswandel des Schutzzolls, Neue Zeit, XX.2.
10. Tyszka, Löhne und Lebenskosten in Westeuropa im 19. Jahrhundert, Schriften des Vereines für Sozialpolitik, 145. Band.
Leztztes Update: 3.8.2008